Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
lachte.
»Und der Teufel, ihr Verführer, wurde in den See von brennendem Schwefel geworfen, wo auch das Tier und der falsche Prophet sind. Tag und Nacht werden sie gequält, in alle Ewigkeit!«
Bernhardine stieß einen spitzen Schrei aus. Gerold trat hinter einer Steinsäule hervor und nieste. Sein Mantel war schneebestäubt, die Stiefel dunkel von Nässe und Schmutz.
»Himmel, habt Ihr mich erschreckt!« Sie zog das Schultertuch enger um den Oberkörper. »Sagt, habt Ihr gute Nachricht?« Ihr Schwager hauchte in seine Hände und schüttelte den Kopf. »Wo ist mein Gemahl?«
»Wer nicht in mir bleibet, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt!«
Bernhardine hatte noch nie den Wunsch verspürt, einen Menschen körperlich zu verletzen, doch jetzt kostete es sie all ihre Kraft, ihrem Schwager nicht ins Gesicht zu schlagen. Sie schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Es hatte keinen Zweck, sich über ihn und seine – angesichts dieser Situation – völlig unangebrachten Worte zu echauffieren. Er würde ihr so wenig Mitgefühl entgegenbringen wie ein Wolf einem frisch geborenen Lamm, deshalb wandte sie sich ab und trat in den Speisesaal. Der Raum war eisig und stank nach Kohl und kalter Asche. Auf dem Tisch standen noch die Morgensuppe, eine Maß Bier, ein Stück Käse und eine Schüssel mit eingetrocknetem Haferbrei. Daneben ein benutztes Gedeck.
»Seid Ihr hungrig?«, fragte sie, da sie sich auf ihre Pflichten als Gastgeberin besann. Als sie keine Antwort erhielt, drehte sie sich um. Gerold stand mit verschränkten Armen vor dem Gobelin und betrachtete die Jagdszene. Auf seinem eingefallenen Gesicht lag ein Ausdruck von … Zufriedenheit? Bernhardine blinzelte. Bis zum heutigen Tag hatte sie sich aus seinen Ressentiments ihr gegenüber nichts gemacht, doch seit gestern Nacht plagte sie das schlechte Gewissen. Und genau so, wie Johannes’ Köter über Meilen hinweg witterten, wenn sich eine läufige Hündin herumtrieb, hatte ihr Schwager womöglich gerochen, dass sie zur Ehebrecherin geworden war. Dass er sich jetzt aber am Verschwinden seiner Nichte ergötzte, war einfach zu viel des Guten. Maßloser Zorn loderte in ihr auf. Sie langte nach dem Käsemesser, betrachtete den Hirschhorngriff eine Weile, prüfte die Schärfe der Klinge mit dem Daumenballen und ging dann zu Gerold hinüber. Ihr Arm schnellte nach oben …
Seine Finger umschlossen ihr Handgelenk wie ein Schraubstock. Mit einer raschen Bewegung drückte er ihren Arm nach unten. Bernhardine ging mit einem Schmerzenslaut in die Knie. Sie öffnete die Hand, und die Klinge fiel zu Boden.
»Verehrte Belle-Sœur. « Gerold bückte sich, bis sein Mund ihr Ohr berührte. »Ich schreibe Euer törichtes Gebaren Euren überreizten Nerven zu«, flüsterte er und fuhr mit seiner Zungenspitze ihren Hals entlang. Ihr wurde eiskalt, Ekel schüttelte sie, und sie unterdrückte einen Schrei. »Und ich werde«, fuhr er fort, »davon absehen, meinem geliebten Bruder von Eurer Anwandlung zu berichten. Aber seid Euch dessen gewiss, Madame, das nächste Mal werde ich nicht mehr so gnädig sein.« Er schnüffelte wie ein Köter an ihrem Haar. »Ich will meinen Eifer über dich gehen lassen, dass sie unbarmherzig mit dir handeln sollen. Sie sollen deine Söhne und Töchter wegnehmen und das Übrige mit Feuer verbrennen.«
Bernhardine sah, wie sich der Stoff seiner Hose bei diesen Worten beulte. Ihr Herz hämmerte gegen das Mieder, in ihren Ohren rauschte es, als würden tausend Bäche zu Tal stürzen. Doch da ließ Gerold ihre Hand unvermittelt los, verbeugte sich formvollendet und verließ den Saal.
Der Steinboden neben dem Esstisch, auf dem Bernhardine noch immer kauerte, war eisig kalt, und die Feuchtigkeit kroch langsam vom Saum ihres Kleides weiter nach oben. Sie fing an zu zittern, griff nach dem Wolltuch, das ihr von den Schultern geglitten war, und zog sich an der Tischkante hoch. Gedanken wirbelten wie ausschwärmende Bienen in ihrem Kopf. Hatte sie ihren Schwager tatsächlich töten wollen? Würde er Johannes davon erzählen? Wusste Gerold von Cornelis und ihr? Und das Wichtigste: Hatte er vielleicht sogar etwas mit Désirées Verschwinden zu tun? Bernhardine griff sich an die Stirn. Ein jäher Schwindel erfasste sie, und sie setzte sich schwer atmend an den Esstisch. Der Geruch der kalten Morgensuppe stieg ihr in die Nase und ließ sie würgen. Ihr ganzes Leben schien sich plötzlich in einem wilden Strudel aufzulösen. Nichts hatte
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