Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
daran grinsen. Sie kramte in ihrer Reisetasche, zog ein Spiralheft hervor, in das sie früher ihre Termine notiert hatte, und griff nach einem Kugelschreiber. Sie zeichnete zwei Spalten auf das karierte Papier und schrieb oben links »Ereignisse« und rechts davon »Fragen/Interpretation«.
Ereignisse
Fragen/Interpretation
Ruf nach Désirée beim Schloss
Frauenname/Wer?
Verse (Tati, Schülerin)
S. H. Zäunemann/ 18. Jh./tot
Fallende Frau beim Schloss mit rotem Kleid und roten Locken
Wer?
Kleines Mädchen im Nachthemd und roten Locken
Wer?
Theaterstück
Huldrich Erismann/ 18. Jh.
Krähe auf Friedhof, beim Grab
tollwütig?
Computer, selbständige Bilderabfolge
Störung? Botschaft? Von wem?
Sie starrte einen Moment auf die Aufstellung und strich dann die Zeile mit dem kleinen Mädchen wieder durch. Das war zwar eine ungewöhnliche Begegnung gewesen, aber eine erklärliche. Anouk kaute gedankenverloren am Kugelschreiber. Etwas viele Fragezeichen! Sie blätterte die Seite um und notierte nun alle Worte auf, die sie von den Gedichten noch im Kopf behalten hatte, gefolgt von den Versen aus dem Theaterstück:
~ verdammen
~ nicht richten
~ frommes Weib
~ Liebe
~ Ruhe
~ kühle Erde
~ alter, krummer Mann
~ Eltern werben
~ Ehestand
~ bitter
~ Liebste, du warst in deinem Geist gewiss, mich nicht auf ewig zu verlieren. Gott wird daher im Paradies uns wieder wissen zuzuführen.
Anschließend schrieb sie noch die Bilder auf, die auf Max’ Computerbildschirm aufgetaucht waren.
~ Anouk, 2 x
~ Schloss Hallwyl, 2 x
~ Krähe
~ Grabstein
~ Kornblumen
~ Seenger Kirche
~ Sidonia Zäunemann
~ Ölgemälde mit Liebespaar
~ Engel
~ Hauptstadt
~ Teufel
Beim Memoryspielen war Anouk früher immer unschlagbar gewesen. Vermutlich hatte sie deshalb auch keines der Bilder vergessen. Sie blätterte von der ersten auf die zweite Seite des Spiralblocks. Es gab durchaus Parallelen. Die Krähe zum Beispiel, die kam sowohl bei den Ereignissen als auch bei den Bildern vor. Oder Sidonia Zäunemann. Die Dichterin befand sich sogar in allen drei Aufstellungen. Genau wie das Schloss. Dort hatten sich zwei Ereignisse abgespielt, und das Ölgemälde war zweimal auf Max’ Computer erschienen.
»Denk nach!«, murmelte sie. »Es muss einen roten Faden geben. Schließlich warst du im Deutschunterricht mal die Beste im Interpretieren.«
Sie stand auf und ging im Zimmer umher. Das Denken war ihr schon immer leichter gefallen, wenn sie sich bewegte.
»Weib, Ehemann, Liebespaar, werben, Grabstein, Tod. Geht es um Liebe und Tod?«, murmelte sie vor sich hin und dachte an das eng umschlungene Paar auf dem Ölgemälde.
»Die Zäunemann spielt eine Rolle. Ob als Protagonistin oder Nebenfigur, ist noch ungewiss. Liebe … zu einem alten, krummen Mann? Unwahrscheinlich. Vermutlich eher eine unglückliche Liebe zu einem fremden Mann, die im Tod endet und deren Protagonisten erst im Paradies wieder zusammenfinden werden. Das würde auch die Verse aus dem Theaterstück erklären. Sehr romantisch!«
Anouk blätterte durch den Spiralblock, hielt einen Moment inne und ging weiter auf und ab. »Rote Locken – wie meine – rotes Kleid. Das Schloss. Irgendetwas muss mit dem Schloss sein. Vielleicht hat dort mal eine rothaarige Frau gelebt. In einem roten Kleid. Womöglich auch ein kleines Mädchen. Der kleine Engel sozusagen. Aber wer ist der Teufel? Der alte Mann? Und was hat Bern damit zu tun? Und die Krähe? Und was ist mit den Kornblumen? Haben einige Blumen nicht auch eine bestimmte Bedeutung?«
»Geht’s dir gut, Liebes?«
Valerie streckte den Kopf zur Tür herein und wandte schnell den Blick ab, als sie bemerkte, dass Anouk nackt war.
»Herrgott, Tati!«, fuhr Anouk herum. »Jetzt hast du mich beinahe zu Tode erschreckt.«
»Tut mir leid, Schätzchen, aber wir hörten Schritte, und auf mein Klopfen hin hast du nicht reagiert. Lernst du für deine Rolle?«
Anouk wollte schon den Kopf schütteln, besann sich dann aber eines Besseren und nickte. »Ja, genau. Ich bin am Üben.«
»Fein, fein«, sagte Valerie lächelnd. »Freut mich, wenn du etwas gefunden hast, das dir Spaß macht.«
»Sag mal, Tati, weißt du zufällig, welche Bedeutung den Kornblumen zugeschrieben wird?«
Ihre Großtante runzelte die Stirn. »Ich glaube, Hoffnung«, sagte sie dann, »warum?«
»Nur so«, erwiderte Anouk und machte sich eine Notiz
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