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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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mehr Bestand, nirgends gab es Zuflucht, niemand stand ihr bei.
    Bernhardine liefen die Tränen übers Gesicht. Ein Geräusch ließ sie zusammenzucken. Neben dem Kamin regte sich eine Gestalt. Der einarmige Junge, der bei ihrer Ankunft im Schloss einst die Krähe abgeschossen hatte, drückte sich mit aufgerissen Augen in den Schatten des Rauchfangs. In der Hand hielt er eine kleine Schaufel, und zwischen seinen Füßen stand der Ascheeimer.
    Bernhardine erschrak. Wie lange war der Bub schon hier? Hatte er etwa die ganze Szene beobachtet und mit angehört? Sie räusperte sich, straffte die Schultern und stand auf.
    »Wie ist dein Name?«, fragte sie den Knaben und trat einen Schritt näher. Sie hatte den Krüppel noch nie aus der Nähe begutachtet. Für sie war er lediglich der Junge, der die Krähen erlegte und sich um die Pferde kümmerte.
    »Huldrich«, wisperte der Kleine und scharrte mit den Füßen, dabei warf er ihr einen scheuen Blick durch seine verfilzten, in Zotteln herabhängenden Haare zu. Er hatte tiefschwarze Augen, die an reife Brombeeren erinnerten. Um seinen schön geschwungenen Mund spielte, trotz seiner Zurückhaltung, ein leichtes Lächeln. Er erinnerte sie an jemandem. Aber an wen? Aus ihm hätte einst ein ansprechender Mann werden können, wäre dieser leer baumelnde Ärmel an seiner Seite nicht gewesen.
    »Also, Huldrich, ich bin mir sicher, du liebst deinen Herrn, nicht wahr?« Der Knabe nickte eifrig. »Fein, dann willst du doch nicht, dass er noch mehr Kummer ertragen muss?« Jetzt schüttelte der Kleine vehement den Kopf. »Dann hör mir gut zu! Du und ich, wir haben jetzt ein Geheimnis zusammen, das wir keinem Menschen erzählen werden. Schwörst du mir das?«
    Der Junge ließ die Schaufel fallen, die mit einem ohrenbetäubenden Scheppern auf den Steinboden fiel. Er legte seine dreckige, mit Ruß verschmierte Hand auf die magere Brust und spreizte Daumen, Zeige- und Mittelfinger ab, dabei schaute er Bernhardine ernst ins Gesicht.
    »Bei der heiligen Gertrud, Herrin, ich werde niemandem etwas erzählen!«

10
    Seengen, 2010
    A ls Anouk die Wohnungstür aufschloss, hörte sie, wie ein Wagen startete und mit kreischenden Reifen vom Trottengässli in die Hauptstraße einbog. Sie blickte über die Schulter, sah aber nur noch einen silberfarbenen Haarschopf in einem dunklen, davonfahrenden Wagen. Anouk schüttelte missbilligend den Kopf. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Durch die Tür, die einen Spalt offen stand, erkannte sie ihre Großtante und den Maler. Die beiden saßen nebeneinander auf dem Sofa und starrten gebannt auf die Mattscheibe, die ihre Gesichter in ein bläuliches Licht tauchte.
    Anouk ging in ihr Zimmer hinauf, zog die Kleider aus und stellte sich unter die Dusche. Während das heiße Wasser auf ihren Körper prasselte, lehnte sie die Stirn an die kühlen Fliesen und ließ den Tag Revue passieren.
    Mysteriöse Dinge passierten in diesem Dorf. Aber sie selbst hatte bisher nie an Übersinnliches geglaubt. Wenn im Fernsehen irgendwelche Mystery-Serien gelaufen waren, hatte sie sich immer das Lachen verbeißen müssen. Denn stets kam in ihnen eine hübsche Frau vor, die des Nachts in einem Flatterhemdchen ängstlich auf den Dachboden stieg, um unheimlichen Geräuschen auf den Grund zu gehen. Und jetzt? Hielt sie es jetzt tatsächlich für möglich, dass Julia …? Aber diese Bilder konnten unmöglich von ihrer toten Freundin stammen. Das ergab alles keinen Sinn! Es war beunruhigend, was hier passierte, und Anouk hatte keine logische Erklärung dafür. Merkwürdig war außerdem auch, dass sie zwar bei jedem dieser Vorkommnisse fast zu Tode erschrocken war, aber komischerweise nie wirklich Angst gehabt hatte. Sie spülte sich das Shampoo aus den Locken, wickelte sich ein Handtuch um den Kopf und warf sich nackt aufs Bett, das ächzend protestierte. Mit der Hand hangelte sie nach der Packung Zigaretten auf ihrem Nachttisch und steckte sich eine an. Es musste eine andere Erklärung für all diese Dinge geben. Nichts geschah grundlos.
    »Ach, Süße«, murmelte sie und dachte an Julia, »ich vermisse dich. Du mit deinem hellen Köpfchen hättest mir des Rätsels Lösung schon längst präsentiert.« Energisch drückte sie die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus. »Okay«, sagte sie dann und schwang die Beine aus dem Bett, »gehen wir also analytisch an die Sache heran!«
    Das hatte schon ihr Mathelehrer auf dem Gymnasium immer zu ihr gesagt. Anouk musste bei der Erinnerung

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