Die Frau mit dem Muttermal - Roman
und begann die Figuren aufzustellen. »Kannst du keinen Spott ertragen?«
Van Veeteren antwortete nicht. Trank stattdessen ein halbes Glas Bier.
»Und dieses Ereignis, von dem wir neulich gesprochen haben«, fuhr Mahler fort. »Hast du was erreicht?«
Der Hauptkommissar nickte und stellte seine Figuren ordentlich hin.
»Denke schon«, sagte er. »Aber solange ich nicht den Zeitpunkt kenne, trete ich weiter auf der Stelle.«
»Ich verstehe«, sagte Mahler. »Nicht«, fügte er nach einer Weile hinzu.
»Das macht nichts«, sagte Van Veeteren. »Ich habe beschlossen, mich nicht zu rühren und jedenfalls ein paar Tage zu warten. Sie den nächsten Zug machen zu lassen …«
»Noch einen erschießen?«
»Ich hoffe nicht«, seufzte Van Veeteren. »Apropos Zug …«
»Allright«, sagte Mahler, beugte sich übers Brett und begann seine Konzentrationszeremonie.
Als Van Veeteren kurz nach halb eins den »Verein« verließ, hatte er zwei Remis und einen Sieg im Gepäck. Er fühlte sich unverwundbar. Am Kongers Plejn musste er jedoch gewahr werden, dass er damit eine übereilte Feststellung getroffen hatte. Er war gerade um die Ecke gebogen, als er einer Bande grölender junger Männer direkt in die Arme lief, die offensichtlich auf ein dankbares Opfer gewartet hatten.
»Eh, alter Tattergreis!«, amüsierte sich ein breitschultriger Jüngling mit rotem Stoppelschnitt und drängte ihn an die Wand. »Scheine oder Schwanz?«
Schwanz, konnte Van Veeteren gerade noch denken, bevor ihm ein anderer Jüngling mit der Innenseite seiner Hand ins Gesicht schlug. Er spürte sofort den Blutgeschmack auf der Zunge.
»Ich bin von der Polizei«, sagte er.
Dieser Satz erntete ein Hohngelächter.
»Polizisten nehmen wir uns am liebsten vor«, sagte einer, der ihn gegen die Wand presste, und die anderen grinsten begeistert dazu. Derjenige, der ihn geschlagen hatte, schlug erneut zu, aber dieses Mal parierte Van Veeteren den Schlag, während er gleichzeitig der roten Bürste ein Knie zwischen die Beine hieb. Der krümmte sich stöhnend zusammen.
»Scheißopa!«, fluchte einer der Hintenstehenden und kam hinzu. Van Veeteren schlug eine gerade Rechte, die irgendwo in der Nasenregion traf. Jedenfalls hörte er deutlich, wie etwas Knorpeliges noch knorpeliger wurde, und soweit er es spüren konnte, handelte es sich dabei nicht um seine Hand.
Der Getroffene zog sich zurück, aber damit war natürlich Schluss mit den Erfolgen. Die drei übrigen – Ungeschädigten – zwangen den Hauptkommissar auf allen vieren auf den Bürgersteig und begannen auf ihn loszudreschen.
Nach einer Weile – vermutlich handelte es sich um nicht mehr als zehn, fünfzehn Sekunden – ließen sie von ihm ab. Rannten grölend davon.
»Verflucht noch mal …«, murmelte Van Veeteren, während er vorsichtig aufstand. Er fühlte, dass seine Lippe und eine Wunde oberhalb der Augenbraue bluteten, aber als er Arme und Beine bewegte, merkte er schnell, dass er noch relativ glimpflich davongekommen war. Er schaute über den leeren Marktplatz.
Wo, zum Teufel, sind denn die Zeugen?, dachte er und nahm seinen unterbrochenen Heimweg wieder auf.
Als er sich kurze Zeit später im Badezimmerspiegel betrachtete, wurde ihm zumindest klar, dass es genau der richtige Beschluss gewesen war, die Ermittlungen das Wochenende über ruhen zu lassen. Ein Ermittlungsleiter, der derartig aussah, konnte kaum eine Inspirationsquelle für seine Mannschaft darstellen.
Danach rief er – in seiner Eigenschaft als Privatperson – die Polizei an und berichtete von dem Überfall. Er bat außerdem eindringlich – in seiner Eigenschaft als Kriminalkommissar –, sich um das eine oder andere Verhör kümmern zu dürfen, wenn man die jungen Delinquenten ausfindig gemacht hatte.
»Waren es Ausländer?«, fragte der wachhabende Polizist.
»Nein«, antwortete Van Veeteren. »Eher Bodybuilder. Warum sollten es Ausländer gewesen sein?«
Er bekam keine Antwort.
Nachdem er sich gewaschen und ins Bett gelegt hatte, überlegte er, warum er während des gesamten Intermezzos eigentlich keine Sekunde lang Angst gehabt hatte. Empört und irritiert war er gewesen, aber nicht ängstlich.
Wahrscheinlich, weil ich für so was zu alt bin, dachte er.
Oder es waren dafür härtere Sachen notwendig.
Oder aber – ihm kam der Gedanke, kurz bevor er einschlief – ich habe um meine eigene Person keine Angst mehr.
Nur um andere.
Um die Gesellschaft. Ihre Entwicklung.
Die des Lebens?
Und
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