Die Frau mit dem roten Herzen
abend im Dynasty suchte.
Beim Anblick der auf ihre Armbanduhr blickenden Meiling erwog Chen einen Moment lang, sie alleine nach Hause zu schicken, dann jedoch erhob er sich, um sie zu begleiten.
22
H AUPTWACHTMEISTER Y U wurde von einem heiseren, gedehnten Laut geweckt.
Während er ins Halbdunkel des Raumes blinzelte und aus seinem Traum aufzutauchen suchte, hörte er es wieder. Desorientiert wie er war, schien ihm der geisterhafte Ruf aus einer anderen Welt zu kommen. War es der Schrei einer weißen Eule? Vielleicht war das nichts Ungewöhnliches in dieser Gegend. Er tastete nach seiner Uhr. Zwanzig vor sechs. Graues Tageslicht strömte durch die Plastikjalousien.
Ein Eulenschrei galt im Volksmund als schlechtes Omen, vor allem, wenn es das erste war, was man am Morgen hörte.
In Yunnan waren Peiqin und er manchmal zum vielstimmigen Gezwitscher ihnen unbekannter Vogelarten erwacht. Andere Zeiten, andere Vogelstimmen. Nach einer windigen, regenreichen Nacht würde der Hügel vor seinem Fenster mit gefallenen Blütenblättern bedeckt sein. Wieder sehnte er sich nach Peiqin.
Er rieb sich die Augen und versuchte, das Gefühl zu verscheuchen, das der Eulenschrei zurückgelassen hatte. Es gab keinen Grund, Schlechtes für den Tag zu erwarten.
Oberinspektor Chen und er hatten darüber spekuliert, ob die Fliegenden Äxte sich zu einer Verzweiflungstat würden hinreißen lassen. Das wäre verständlich und zugleich höchst beunruhigend. Angesichts der hohen Gewinne, die sie mit dem Menschenschmuggel machten, würde die Bande alles tun, um Wen zu erwischen und die Aussage ihres Mannes zu verhindern.
Das Handy läutete. Das LCD-Display zeigte eine Nummer im Ortsnetz an. Der Anrufer war Direktor Pan; es war das erste Mal, daß sie nach der Lebensmittelvergiftung miteinander sprachen.
»Ist alles in Ordnung, Pan?«
»Ja, es geht mir wieder gut. Gestern abend habe ich einen Kunden in das Badehaus in Tingjiang ausgeführt. Dort sah ich Zheng Shiming mit einigen anderen Taugenichtsen Mah-Jongg spielen.«
»Wer ist Zheng Shiming?«
»Einer von den Fliegenden Äxten. Er hatte vor zwei, drei Jahren Geschäftskontakte zu Feng, dem Mann von Wen.«
»Das sind ja interessante Neuigkeiten. Da hätten Sie mich besser schon gestern abend verständigen sollen.«
»Ich bin schließlich kein Bulle. Zunächst habe ich Zheng nicht mit Ihren Ermittlungen in Verbindung gebracht«, erklärte Pan. »Aber es ist noch nicht zu spät. Ein Mah-Jongg-Spiel kann leicht die ganze Nacht dauern. Wenn Sie jetzt gleich hingehen, treffen Sie ihn vermutlich noch. Er hat ein rotes Motorrad. Eine Honda.«
»Bin schon unterwegs«, sagte Yu. »Gibt es noch etwas, das ich über Zheng wissen sollte?«
»Letztes Jahr saß er wegen Glücksspiels im Gefängnis. Sie haben ihn eben erst auf Bewährung rausgelassen, weil er ärztliche Behandlung braucht. Eigentlich ist Mah-Jongg nicht sein Spiel.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Ach, und dann habe ich da noch Gerüchte über Zheng und die Lustige Witwe Shou gehört, die Besitzerin des Clubs. Offenbar schlüpft sie gern mit Zheng unter die Decke.«
»Verstehe.« Deshalb hatte Pan ihn in aller Frühe angerufen. Ein schlauer Fuchs. Nach einer nächtlichen Mah-Jongg-Partie hatte man bei einem Besuch um halb sieben gute Chancen, die Herrschaften zu überraschen.
»Ach, und Sie haben nicht mit mir gesprochen, Hauptwachtmeister Yu.«
»Natürlich nicht. Und vielen Dank auch.«
»Ich muß mich bei Ihnen bedanken. Wenn Sie mich nicht gerettet hätten, wäre ich in Ihrem Hotel an Lebensmittelvergiftung gestorben.«
Hauptwachtmeister Yu machte sich längst keine Illusionen mehr über die Kooperation mit der örtlichen Polizei. Eine Person wie Zheng konnte man nicht einfach übersehen haben. Er beschloß, nach Tingjiang zu gehen, ohne Wachtmeister Zhao zu informieren. Nach kurzem Überlegen steckte er seine Dienstwaffe ein.
Das Dorf war nur fünfzehn Minuten Fußweg von seinem Hotel entfernt. Man konnte sich schwer vorstellen, dort ein öffentliches Badehaus vorzufinden. Aber das Rad der Veränderung drehte sich unaufhörlich in der irdischen Welt des roten Staubes – und zwar vorwärts wie rückwärts. Das erneute Aufleben der Badehäuser in den neunziger Jahren hing weniger mit der Nostalgie alter Leute zusammen, als mit den modernen Dienstleistungen, die dort angeboten wurden. Die Neureichen konnten sich von Kopf bis Fuß verwöhnen lassen, wobei kein Körperteil ausgespart blieb.
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