Die Frau mit dem roten Tuch
Versuchung ist groß, Monods reduktionistische Fanfare einmal rückwärts zu blasen – und sei es nur, um zu hören, wie musikalisch oder unmusikalisch es klingt: Das Universum war schwanger mit dem Leben und das Leben mit dem Bewusstsein dieses Universums seiner selbst.
Ich finde, es klingt gar nicht so schlecht. Und schon gar nicht kollidiert es mit dem, was meine Intuition mir sagt – womit nicht gesagt sein soll, dass die für irgendjemanden von Bedeutung sein muss. Sicher ist: Dieses Universum ist sich seiner selbst bewusst, besitzt ein Bewusstsein seiner selbst. Und eine solche offenkundige, aber überraschende Tatsache kann nicht ganz und gar esoterischen Deutungen preisgegeben werden.
Es gibt da etwas auf einem höheren Niveau, denke ich, als wir uns der Wasserscheide nähern. Ich wage sogar zu behaupten, dass es für dieses Etwas auf höherem Niveau wissenschaftliche Argumente gibt. Das Bewusstein hätte vielleicht nicht entstehen dürfen, und das Leben vielleicht auch nicht. So wie Monod argumentiert. Aber das Universum vielleicht ebenso wenig.
Wäre das Universum vom allerersten Moment an nur ein klein wenig anders beschaffen gewesen, als es in Wirklichkeit ist, dann wäre es schon einige Millionstel Sekunden nach seiner Entstehung wieder zusammengebrochen. Schon mikroskopische Unterschiede in dem, was Monod die »ersten Prinzipien« nennt, hätten mit unerbittlicher Konsequenz dazu geführt, dass überhaupt kein Universum entstanden wäre. Ich will nur kurz zwei Beispiele nennen: Wenn das Universum nicht vom ersten Augenblick an ein wenig mehr positive als negative Masse aufgewiesen hätte, hätte das gesamte Universum sich einen Augenblick nach dem Urknall selbst zerstört. Wenn die starke Kernkraft nur ein wenig schwächer gewesen wäre, würde das gesamte Universum aus Wasserstoff bestehen, und wenn sie nur ein wenig stärker gewesen wäre, gäbe es vielleicht überhaupt keinen Wasserstoff. – Die Liste ließe sich fast beliebig verlängern. Wie Stephen Hawking es einmal sinngemäß ausgedrückt hat: Die Wahrscheinlichkeit, die dagegen spricht, dass durch den Big Bang ein Universum wie unseres entsteht, ist gewaltig.
Wie es ein »Zufall« ist, dass Leben und Bewusstsein entstanden, so ist es auch ein »Zufall«, dass es überhaupt ein tragfähiges Universum gibt. Auch Monods »erste Prinzipien« sind zufällig entstanden – wie am Spieltisch in Monte Carlo. Oder dürfen wir nicht wenigstens darüber spekulieren, ob »etwas« irgendwo »hinter« oder »außerhalb« von Zeit und Raum gewesen sein könnte, das den Urknall hervorgebracht hat? Jedenfalls lässt sich wissenschaftlich nicht völlig ausschließen, dass »etwas« mit diesem Universum »schwanger« gewesen sein könnte.
Damit ein Universum fähig ist, ein Bewusstsein seiner selbst und seiner eigenen Schönheit und Gesetzmäßigkeit hervorzuzaubern, muss eine lange Reihe von Kriterien erfüllt sein – und das bereits vor den allerersten Mikrosekunden nach dem Big Bang. Dieses Universum ist so ein Universum. Das sollten wir uns vor Augen halten.
Denke ich. Viele meiner Fachkollegen würden solche Gedanken als Ketzerei ansehen. Zumindest fallen sie weit aus dem Rahmen dessen, was innerhalb der Naturwissenschaften verankert ist. Hier kommt ins Spiel, was ich unter Intuition verstehe.
Die Straße führt jetzt links am Fluss entlang. Wir entfernen uns für eine Weile von ihm und fahren durch Ackerland, sehen Wiesen und kleine Wälder, dann sind wir wieder am Fluss zurück. Wenig später geht es hoch zur Berghütte Bjøberg. Ich sehe eine kühne Hängebrücke über den Fluss. Wir befinden uns ungefähr siebenhundert Meter über dem Meer. Ursprünglicher Birkenwald wächst an beiden Ufern.
Der Nebel ist noch dichter geworden, aber ich sehe den vielen Schnee am Berghang zur Linken, und ich sehe rechts ein paar Hütten, die letzten, glaube ich, ehe wir das Hochgebirge erreichen, wo nicht gebaut werden darf.
Wir nähern uns dem Eldrevatn an der Bezirksgrenze und der Wasserscheide. Ich bin seit damals zum ersten Mal wieder hier, aber ich habe mich vorbereitet, bin froh, dass ich nicht Auto fahren muss. Dennoch schaue ich nicht nach rechts auf den See, als wir vorüberfahren. Ich schaue auf die Uhr. Es ist 14.20 Uhr. Was jetzt kommt, war nicht geplant, aber ich habe eine halbe Flasche Wodka im Rucksack. Ich fische sie diskret heraus, drehe den Verschluss ab und genehmige mir einen großen Schluck. Ich glaube nicht, dass einer der
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