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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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anderen Fahrgäste es bemerkt. Es ist über dreißig Jahre her, aber noch immer ganz nah. Sie war ein Mysterium. Die Frau mit dem roten Tuch, meine ich.
    Dann geht es nach unten in Richtung Westnorwegen. Es ist 14.29 Uhr, als wir die Kurve beim Abgrund passieren. Ich nehme noch einen Schluck aus meiner Wodkaflasche. Alles, woran ich denke, scheint etwas damit zu tun zu haben, was damals geschehen ist. In Revsnes wollten wir versuchen, ein paar Stunden im Auto zu schlafen. Doch dann lagen wir mit geschlossenen Augen und redeten.
     
    Wir fahren an dem reißenden Fluss entlang in Richtung Lærdal, aber von der Stabkirche von Borgund aus führt die Straße durch Tunnel. Wolkenkissen schweben über dem Talgrund wie schwerelose Lämmer. Wir fahren ins Zentrum von Lærdal, wo wir damals nicht übernachten wollten. Weißt du noch? Wir nehmen neue Fahrgäste auf, dann tauchen wir in den langen Tunnel nach Fodnes. Ich freue mich über den neuen Tunnel. Ich bin froh, dass mir das Wiedersehen mit Revsnes erspart bleibt.
    Auf der kurzen Überfahrt mit der Fähre nach Mannheller versuche ich eine Art Zusammenfassung dessen, was ich auf fast dem gesamten Weg von Oslo bis hierher gedacht habe.
     
    Sieht man von einer Reihe Detailfragen ab, steht die Naturwissenschaft heute vor zwei gewaltigen Rätseln. Wir fragen uns, was genau im ersten Bruchteil der ersten Mikrosekunde des Universums geschehen ist, und wir fragen nach dem Wesen des Bewusstseins. Wir haben womöglich keinen Grund zu der Annahme, dass es zwischen diesen beiden größten Rätseln für uns Menschen und die Naturwissenschaften einen Zusammenhang gibt. Aber wir können einen solchen Zusammenhang auch nicht ausschließen. Wenn ich einen Tipp geben sollte: Ich setze auf die Existenz eines Zusammenhangs.
    Ich glaube, es muss eine tiefere Erklärung – eine Wurzel, einen Grund – hinter den physikalischen Gesetzen geben, die unser Universum geformt haben – womit du auch mein Minimum eines Credos hättest. Wenn es etwas »Göttliches« gibt, dann muss es vor oder hinter dem Urknall zu suchen sein. Von da an herrschen meiner Auffassung nach die Naturgesetze und nur diese, und absolut alles, was seitdem geschieht, hat natürliche Ursachen.
    Wenn man denn nach einem »Gottesbeweis« suchen möchte, dann kann man ihn meines Erachtens in den kosmischen Konstanten suchen oder in dem, was der Atheist Jacques Monod die »ersten Prinzipien« nannte. Denn wie ich schon sagte: Das Einzige, woran ich nicht glaube, sind »Offenbarungen«, von welchen göttlichen Kräften auch immer.
     
    Damit bin ich am Ende meiner Gedankenreihe angelangt, und bald werde ich auch am Ende meiner Busfahrt angelangt sein. Lass mich nur noch hinzufügen, dass du lange suchen müsstest, bis du einen Physiker findest, der in der Frage, ob Leben und Bewusstsein Wesensmerkmale des Universums sind, so weit zu gehen bereit ist wie ich. Dennoch baue ich meine Argumentation nicht auf eine Offenbarung oder einen Glauben auf – sie entspringt allein und direkt dem, wie ich die Natur selber lese.
     
    Ein neuer Tunnel auch bei Mannheller, aber bald sehen wir unten links Kaupanger, wo wir beide damals die Fähre verlassen haben. Dann geht es aufwärts in ein neues Nebelmeer, ehe wir Sogndal passieren und uns einem weiteren Gebirgspass nähern.
    Als wir den langen Tunnel hoch oben am Berg über dem Fjærlandsfjord verlassen, sehe ich unter mir nur Nebel, aber obwohl ich die Straße noch nie gefahren bin, weiß ich, dass unter dem Nebel die alte Landschaft auf mich wartet. Es geht in noch einen Tunnel, und als wir ihn verlassen, befinde ich mich unterhalb der Wolkendecke und sehe Supphelledalen, Bøyadalen und das Mundalstal.
    Und nun bricht plötzlich das über mich herein. Ich frage mich: Ist sie da? Wird sie auch kommen? Es ist ein purer Reflex, und ich weiß, wie irrational er ist.
     
    Ich steige beim Gletschermuseum aus dem Bus, rufe im Hotel an und werde einige Minuten später mit dem Auto abgeholt. Dann stehe ich wieder in dem alten hölzernen Gebäude, mehr als dreißig Jahre später. Ich ziehe ins Zimmer 235 mit dem schönen Blick auf den Fjord, die Berge und den Gletscher. Denn wieder zeigt sich der Nebel in wolkigen Gebilden, die in so geringer Höhe über dem Fjord treiben, dass ich vom Hotelfenster aus über sie hinwegschauen kann.
    Der Speisesaal ist voll besetzt. Schön zu sehen, dass das alte Hotel so gut belegt ist, aber vielleicht spielt dabei auch die Eröffnung der Klimaausstellung eine Rolle.

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