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Die Frau mit dem roten Tuch

Die Frau mit dem roten Tuch

Titel: Die Frau mit dem roten Tuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jostein Garder
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eines Nervensystems und eines Gehirns.
     
    Gol, 207 M. ü. d. M. Ich nehme meine Sachen, eine Jacke und einen kleinen Rucksack. Nächster Halt Gol, Ausstieg rechts.
    Wenig später stehe ich draußen im strömenden Regen. Ich nehme den Bus zum Busbahnhof von Gol. Im Bus schalte ich einen tragbaren GPS-Empfänger ein und habe bald Satellitenkontakt.
    Es ist 11.19 Uhr, und ich befinde mich auf 60 Grad, 42 Minuten und 6 Sekunden nördlicher Breite und 08 Grad, 56 Minuten und 31 Sekunden östlicher Länge. Die mögliche Abweichung beträgt +/- 20 Fuß. Sonnenaufgang 04.21 Uhr, Sonnenuntergang 22.38 Uhr, aber es regnet aus schweren Wolken. Mondaufgang 08.11 Uhr, Monduntergang 23.23 Uhr, aber selbst an einem klaren Sommertag würden wir den Mond am Himmel kaum sehen können. Zu den Möglichkeiten für die Jagd und den Fischfang in Gol heißt es: Average Day. Na gut.
     
    Im Busbahnhof setze ich mich zu einer Tasse Kaffee und einem Hörnchen mit Käse und Paprika ins Café. Aber ich grüble noch immer, ich denke in kosmischen Größenordnungen und bin in dem Lokal nicht wirklich anwesend, obwohl ich mich für einige Sekunden vom intensiven Blickkontakt mit einer deutlich jüngeren Frau ablenken lasse. Ich habe die alberne Vorstellung, dass sie mich womöglich für zehn Jahre jünger hält, als ich bin.
    Wieder draußen gehe ich die Hauptstraße entlang durchs kleine Zentrum. Inzwischen regnet es in Strömen, was mich, sofern das möglich ist, in eine noch abgehobenere Stimmung versetzt. Trotzdem lege ich eine kleine Denkpause ein und notiere ein paar Stichwörter für die Rede, die ich zwei Tage später halten muss. Ich kann schließlich nicht ahnen, dass wir beide uns zu diesem Zeitpunkt bereits begegnet sein werden. Dass ich selbstverständlich an damals zurückdenke, als wir auf dem Weg zum Jostedalsbreen in einem roten VW hier vorüberkamen, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.
    Ich kann ausgiebig Mittagspause machen, da der Bus Gol erst um 13.20 Uhr verlässt. Einige Minuten später tauchen wir in den Nebel über Hemsedal ein. Auch im Bus gibt es einen kleinen Bildschirm. Die Außentemperatur liegt bei 14 Grad. Der Nebel lichtet sich ein wenig.
     
    Wie wir auf unserem eigenen Planeten sehen, führt ein langer Weg von einem Nervensystem und einem Gehirn zu dem, was wir »Bewusstsein« nennen, jedenfalls dann, wenn wir damit etwas so Außerordentliches meinen wie die Fähigkeit, über unseren Platz in der Welt nachzudenken – und nicht nur in irgendeinem Wäldchen, sondern im ganzen Universum, um nicht zu sagen: in der Wirklichkeit. Andererseits: Als ein Wirbeltier sich erst einmal auf zwei Beine erhob und die vorderen Gliedmaßen zur freien Verfügung hatte, um zum Beispiel Werkzeuge herzustellen, wurde es zum entscheidenden Vorteil, ein paar nützliche Tricks nicht nur zu lernen, sondern sie auch mit anderen Mitgliedern der Herde zu teilen, etwa den eigenen Nachkommen.
     
    Mit dem zu leben, was wir »Bewusstsein« nennen, stand für die Menschen bereit wie ein freies Zimmer. Hätten wir es nicht als Erste betreten, hätten früher oder später womöglich Vertreter einer anderen Wirbeltierordnung als Erste darüber nachgedacht, wie dieses Universum mit Leben und Bewusstsein entstanden ist.
    Es mag wie eine billige Pointe klingen, aber wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass hundert Prozent aller Himmelskörper, von denen wir mit Sicherheit wissen, dass sie Leben beherbergen, auch Bewusstsein entwickelt haben. Dass dessen Verständnishorizont sich bis zum Urknall zurückerstreckt, kommt hinzu.
     
    Die Entwicklung des Universums handelt nicht zuletzt von der Entwicklung immer differenzierterer physischer Prozesse. Bisher ist das menschliche Gehirn das komplexeste System, das uns überhaupt bekannt ist. Es ist das Bewusstsein, das dieses Organ bewohnt, das immer wieder ins Weltall hinausblickt und stellvertretend für den gesamten Kosmos fragt: Wer sind wir? Woher kommen wir?
    Semantisch gesehen sind diese kurzen Sätze so schlicht und grundlegend, dass es kein Wunder wäre, wenn sie auch von anderen, viele Lichtjahre von unserer eigenen Galaxis entfernt liegenden Himmelskörpern aus in die Weltennacht hinausgerufen würden. Die Sprache dieser Rufe hätte womöglich eine vollkommen andere Struktur, und ihre Laute wären womöglich von einer Art, dass wir sie auf Anhieb gar nicht als Elemente einer Sprache identifizieren – trotzdem könnte es sein, dass eine außerirdische Zivilisation, die sich einer solchen

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