Die Frau ohne Gesicht
und als ich dann zurückgekommen bin, habe ich gemerkt, dass es mir viel besser geht, wenn ich hier arbeite. Es tut dem Kopf und dem Herzen gut, dass man zu einer Gemeinschaft gehört.«
»Ich weiß, was du meinst«, sagte Lia.
Am frühen Abend drang ein erregter Wortwechsel aus Gallaghers Zimmer. Die Bürohelfer zogen erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Ich ändere kein Wort. Wenn dir das nicht passt, such dir eine andere Partei«, brüllte Gallagher.
Die Tür flog auf, und Gareth Nunn stürmte heraus. Lia hatte bisher nur wenige Worte mit dem jungen Mann gewechselt und kannte ihn kaum, merkte aber, dass die anderen Mitarbeiter verlegen ihre Schuhspitzen betrachteten, als Nunn seinen Mantel vom Haken nahm.
»Tschüss allerseits«, knurrte Nunn und stiefelte hinaus.
Lia blieben nur ein paar Sekunden, um ihre Entscheidung zu treffen. Sie schnappte sich ihren Mantel, rief Stephen zu, sie wolle frische Luft schnappen, und folgte Nunn.
Nicht besonders elegant. Aber die Chance muss ich nutzen.
Auf der Straße holte sie ihn schnell ein und fasste ihn kurzentschlossen an der Schulter. »He, was war da gerade los?«, fragte sie.
Nunn blieb stehen und starrte ihr wütend ins Gesicht. »Was zum Teufel geht dich das an?«
»Wahrscheinlich gar nichts. Aber ich überlege auch, ob ich wirklich zu denen gehöre.«
Nunn musterte sie überrascht.
»Willst du wirklich wissen, was das für Leute sind?«, fragte er.
»Ja. Lass uns einen Kaffee trinken«, sagte Lia und führte ihn vom Parteigebäude weg.
Nachdem sie sich eine halbe Stunde mit Gareth Nunn unterhalten hatte, wusste Lia, dass sie etwas Wichtiges erfahren hatte. Der junge Mann, mit dem sie im Café saß, war eine außergewöhnliche Erscheinung. Er hatte Sozialpolitik und Staatswissenschaften studiert, in Freiwilligencamps in aller Welt gearbeitet und sich der Politik verschrieben. Lia lag die Frage auf der Zunge, wie ein intelligenter junger Politikstudent in diese Gesellschaft geraten war. Nunn erklärte es ihr von sich aus.
»Ich bin zur Fair Rule gekommen, weil die derzeitige Ausländerpolitik nicht funktioniert. Die Probleme sind unübersehbar, in diesem Punkt hat die Partei recht. Aber sie wollen die Probleme nicht wirklich lösen. Ihre Politik dient nur dem Zweck, den Massen das trügerische Gefühl zu geben, dass man ihnen Gehör schenkt. Ihre Lösung der Ausländerpolitik ist Unsinn – oder besser gesagt, sie haben gar keine!«
Nunn hatte einen Kreis gesucht, in dem er ein neues, besser reguliertes Einwanderungssystem entwickeln konnte. Doch seine Ideen hatten Tom Gallagher und Arthur Fried nicht gepasst.
»Fried ist eine Kulisse, an die alle Wünsche gehängt werden können, und er streicht jegliche Ansätze zu tiefsinnigerem Denken aus den Verlautbarungen der Partei. Er erklärt Gallagher, was das Volk will, und Gallagher formuliert es aus.«
In der Partei hatte man Gareth Nunn als Ideenlieferanten nutzen wollen. Er hatte Gallagher bei der Abfassung von Statements geholfen, sich aber mit ihm zerstritten. Arthur Fried selbst hatte keinerlei Interesse an Nunn gezeigt.
»Ich glaube nicht, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, was sie im Parlament erreichen wollen, wenn sie gewählt werden. Die ganze Energie richtet sich darauf, die Partei zu einer Volksbewegung zu machen. Die Fremdenfeindlichkeit auszunutzen.«
Nunn trank seinen kalt gewordenen Kaffee aus und erklärte, er müsse jetzt nach Hause.
»In die Chapel Street komme ich nicht mehr. Die Partei ist nichts für mich, das ist mir inzwischen klar.«
»Ich verstehe«, sagte Lia. »Danke, dass du mir das alles erzählt hast. Jetzt kann ich mir auch besser überlegen, ob ich weitermachen will.«
Dann fragte sie noch, ob es neben den politischen Differenzen noch weitere Gründe für Nunns Entscheidung gebe.
Er musterte sie kurz. »Es gibt noch andere Gründe. Aber darüber kann ich nicht sprechen.«
»Warum nicht?«
»Weil es nur ein Verdacht ist, für den ich keine Beweise habe.«
Lia zügelte ihren Drang nachzubohren.
»Jedenfalls würde ich dir raten, nicht dabeizubleiben«, erklärte Nunn und ging.
Lia kehrte in das Büro der Fair Rule zurück. Bis zum Abend gestaltete sie Werbematerial, doch ihre Gedanken kreisten nur noch um das, was sie von Nunn erfahren hatte.
Am Montag ging Lia ins Studio und erstattete Mari Bericht, die sich eingehend nach Gareth Nunn und den anderen Mitarbeitern im Büro erkundigte, vor allem nach Tom Gallagher.
»Hervorragend«, sagte sie schließlich.
Lia
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