Die Frau vom Leuchtturm - Roman
werden, und Radaranlagen können versagen und tun das auch gelegentlich. Aber der Leuchtturm von Maidenstone ist in seiner gesamten einhunderteinundsechzigjährigen Geschichte nicht ein einziges Mal ausgefallen. Sein Signal funktioniert inzwischen automatisch, und aus dem Häuschen des Leuchtturmwärters hat man ein Museum gemacht. Aber die Schönheit und Romantik des altehrwürdigen Leuchtturms haben sich einen besonderen Platz im Herzen aller Menschen bewahrt, die einmal von fernen Ländern, Segelschiffen und dem Meer geträumt haben.
Doch an diesem ungewöhnlich warmen Oktobernachmittag war das kleine Museum geschlossen, und kein einziger Tourist war zu sehen. Bis auf einen ramponierten Toyota-Pick-up, der aussah, als hätten darin gestern Abend ein paar Schüler Bier getrunken und ihn dann stehen lassen, war ich allein.
Ich stellte die Vespa im Schatten des Turms auf ihrem Ständer ab und setzte mich auf einen der weiß angestrichenen Felsbrocken, die den Parkplatz vom Strand trennen. In meiner Jeanstasche fand ich ein Gummiband, mit dem ich meine Haare zu einem losen Knoten band. Dann sah ich zum Himmel auf und beobachtete ein Möwenpaar, das um den Leuchtturm segelte.
Es wäre schön, überlegte ich, so wie früher hierherzukommen, nur mit einem Lunchpaket und meinem Skizzenblock. Und dieser Gedanke führte mich zu Bobby zurück. Hierher war er an diesem scheußlichen Morgen vor drei Jahren gegangen, damit ich allein mit Tante Ellen sein konnte. Jetzt fürchtete ich, dass seine Erinnerung an dieses wunderschöne Fleckchen Erde verdorben
worden war, als er an diesem Tag zurückkehrte und sah, wie ich meine arme Tante anschrie.
Gott, wie ich die beiden vermisste und mich danach sehnte, sie wenigstens einen Augenblick lang wiederzusehen!
Laura meint, Trauer sei keineswegs das schmerzhafteste menschliche Gefühl. Reue schlägt sie allemal mit links, sagt sie.
Schritte, die sich direkt hinter mir näherten, rissen mich aus meinen Gedanken. Ich sprang auf, fuhr herum und fand mich einem hochgewachsenen Fremden gegenüber, der vom Strand heraufkam. Die Sonne stand hinter ihm, ließ sein helles Haar aufleuchten und warf tiefe Schatten über sein Gesicht. Und wie so oft in den letzten Monaten tat mein Herz einen erwartungsvollen Satz.
»Nette Aussicht, was?«
Seine Stimme zerstörte den kurzen Zauber, und er sah zum Leuchtturm auf. Jetzt konnte ich sein tief gebräuntes Gesicht erkennen, das auf seine eigene Art zwar attraktiv war, Bobby aber ganz und gar nicht ähnlich sah.
»Ja«, stotterte ich. »Ich bin seit Jahren nicht hier draußen gewesen, aber es ist genauso schön wie in meiner Erinnerung.«
Der Fremde trug verwaschene, abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt, das mit Farbe bespritzt war und sich eng um seinen muskulösen Oberkörper und seine Schultern spannte. Er runzelte die Stirn über meine Worte, und ich spürte, dass eine untergründige Drohung von ihm ausging, die noch durch die dunklen Tätowierungen betont wurde, die in Form gezackter Ketten um seine Oberarme
verliefen. Mit einem Mal fühlte ich mich unwohl und an diesem abgelegenen Ort sehr angreifbar. Unauffällig bewegte ich mich in Richtung meines Mopeds.
»Sie wissen wahrscheinlich, dass Sie sich Schwierigkeiten einhandeln, oder?«, sagte er und vertrat mir den Weg.
»Ich muss jetzt wirklich fahren«, keuchte ich und umrundete ihn.
Gutmütig zuckte er die Achseln und ließ mich vorbei. »Wie Sie meinen, aber wenn Harvey Peabody Sie auf diesem Ding ohne Helm erwischt, verpasst er Ihnen einen Strafzettel.«
Ich drehte mich um und starrte ihn an. »Ist Harvey Peabody etwa immer noch Ortspolizist? Mein Gott, er muss doch inzwischen fast siebzig sein!«
Jedes Gefühl der Bedrohung verschwand, als der Fremde jetzt lächelte und dabei eine kräftige weiße Zahnreihe enthüllte. »Im Frühling wird er zweiundsiebzig«, erklärte er. »Der alte Harvey ist so unvergänglich wie die Felsen am Wellenbrecher. Er hat mich hopsgenommen, als ich in der siebten Klasse war und mit dem Skateboard in Shellys Geschenkboutique gekracht bin, und er ist immer noch in Form. Die meisten Leute hier glauben, dass er unsterblich ist.«
Irgendetwas an dem Fremden kam mir vage bekannt vor.
»Danny!«, rief ich dann aus. »Du bist Danny Freedman!«
»Schuldig im Sinne der Anklage«, gab er zurück. »Außer, dass mich niemand mehr Danny nennt. Dan klingt besser, findest du nicht?«
»Diese Skateboardgeschichte kenne ich auch!«, rief
ich freudig aus. »Du hast
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