Die Frau vom Leuchtturm - Roman
Nachlassgutachten anging,
zu denen ich unsere Klienten aufsuchte, musste ich ohnehin fahren oder fliegen, und zwar größtenteils nach Neu-England. Und in Neu-England war ich hier bereits. Warum also sollte ich mir nicht in Freedman’s Cove einen Arbeitsplatz aufbauen? Den Telefondienst im Manhattaner Büro konnte jeder erledigen, sagte ich mir.
Und wenn ich hier herzog, konnte ich meine entsetzlich teure New yorker Wohnung loswerden. Sie barg ohnehin nur noch schmerzliche Erinnerungen an Bobby, und nach dem Einbruch hatte ich erst recht keine Lust mehr, dorthin zurückzukehren.
Ich rief mein persönliches Finanzprogramm auf und rechnete ein paar Zahlen für Miete, Nebenkosten und Ähnliches durch. Das Ergebnis öffnete mir die Augen. Wenn ich nach Freedman’s Cove zog, konnte ich fast 50.000 Dollar jährlich sparen.
Die ganze Idee war so aufregend, dass ich beschloss, Damon anzurufen, obwohl es schon fast Mitternacht war. Ich nahm mein zerkratztes Handy und tippte seine Nummer ein.
Merkwürdigerweise nahm er den Anruf wieder nicht an.
Ich fuhr den Computer herunter und fragte mich, wo mein unberechenbarer Partner steckte. Dann ging ich in die Küche, um mir den letzten Rest Kakao noch einmal aufzuwärmen.
Ich stand am Herd, als ein besonders heftiger Windstoß das ganze Haus erbeben ließ. Ich spähte in den Garten hinaus und sah, wie sich die gewaltige Eiche unter den Böen bog. Das alte Haus liegt sehr nah am Meer, daher war meine Hauptsorge weniger ein möglicher
Sturmschaden als Hochwasser. Ich ging in den Wohnraum zurück, schaltete den Fernseher ein und hoffte, den letzten Wetterbericht zu erwischen.
Bei CNN Boston ging gerade ein Bericht über den frühen Wintersturm zu Ende. Bevor ich Details erfahren konnte, ging der Reporter zu einer Geschichte über den Absturz eines Inlandsflugs über, dessen Ursache man in den schlechten Wetterbedingungen vermutete. Da ein Flugzeugabsturz das Letzte war, worüber ich etwas hören wollte, schaltete ich den Fernseher aus und ging zu Bett.
Als ich die Treppe hinaufging, zirpte mein Handy. Ich ging dran und richtete mich auf eine tränenreiche Versöhnung mit Damon ein. »Hallo?«, meldete ich mich. »Bist du das, Damon?«
Im Lautsprecher hörte ich statisches Knacken, und eine schwache, entstellte Stimme sagte meinen Namen. Dann riss die Verbindung ab. Stirnrunzelnd sah ich auf das Telefon hinunter; wahrscheinlich war der Sturm auch an der Empfangsstörung schuld. Ich war mir sicher, dass Damon der Anrufer gewesen war, denn er war - außer Bobby natürlich - der Einzige, der meine private Handynummer kannte. Erleichtert grinsend wählte ich sofort noch einmal die Nummer von Damons Wohnung, aber die Nebengeräusche waren so laut, dass ich nur die ersten paar Worte der Ansage seines Anrufbeantworters hörte.
»Ich ruf dich morgen an«, schrie ich. Dann schaltete ich das Handy aus und ging in mein Zimmer.
Dies würde die dritte Nacht in meinem geliebten Turmzimmer werden. Schon zweimal war ich hier eingeschlafen,
hatte einen Alptraum von Bobby und anschließend Besuch von dem traurigen Gespenstermädchen gehabt.
Normalerweise hätten derart verstörende Erlebnisse mich bewogen, auf dem Sofa im Salon zu nächtigen. Aber merkwürdigerweise empfand ich keine Angst.
Eigentlich hoffte ich sogar, mein freundlicher Geist werde sich wieder zeigen. Auf die Alpträume allerdings konnte ich verzichten.
Ich zündete meine blaue Fairy-Lampe an, machte das Licht aus und kroch unter die Decken.
Dann lag ich in meiner gemütlichen Kapitänskoje da und sah zu dem zauberhaften blauen Licht auf, das die Kuppeldecke anstrahlte, während vor meinen Fenstern der kalte Nordoststurm heulte.
Während ich darauf wartete, dass sich das Gespenst zeigte, das ich für Aimee Marks hielt, beschloss ich, dass ich dieses Mal versuchen würde, Kontakt zu ihr aufzunehmen. Denn ich war mir ganz sicher, dass sie mich wahrnahm. Und ich hatte den Eindruck, dass sie sogar zu mir gesprochen hatte.
Ich ließ mich in die Kissen sinken und malte mir in Gedanken aus, was ich sie fragen wollte, angefangen mit dem Grund, aus dem sie diesen Raum und dieses Haus aufsuchte. Hagelkörner klopften gegen die Fensterscheiben. Auf den wogenden Wellen beschrieb das Signalfeuer des Leuchtturms endlose Lichtkreise.
Langsam wurden mir die Lider schwer, und ich schlief ein.
»Liebst du mich für immer und ewig?«, flüsterte mir Bobby leise ins Ohr, und sein warmer Atem kitzelte mich in den Nackenhärchen.
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