Die Frau vom Leuchtturm - Roman
erklären, warum ihre Erscheinung jetzt schon zweimal mit meinen lebhaften und schmerzlichen Träumen von Bobby einhergegangen war.
War es möglich, dass sie mich weinen gehört hatte und gekommen war, um mich in meinem Kummer zu trösten?
Aber warum? Und wer war sie?
Das musste ich unbedingt herausfinden. Ich stieg die steile Treppe zu dem großen Dachboden über dem Hauptgebäude hinauf. Mitten in dem weitläufigen, dunklen Raum sah ich die weiße Schnur, die von der nackten, hoch über mir an einem der Dachsparren unter dem First des Hauses angebrachten Glühbirne herunterbaumelte. Als ich daran zog, wurde der Raum in gelbliches Licht getaucht, und ich sah mich um.
In seinem Eifer, mit der Renovierung fertig zu werden, hatte Damon vieles, was nicht verkauft oder weggeworfen worden war, hier abgestellt. An der gegenüberliegenden Wand lehnten die scheußlichen Ahnenporträts, die mein ganzes Leben lang im Salon, der Diele und im Treppenhaus gehangen hatten. Doch eines war dabei, das ich noch nie gesehen hatte. Ich zog es ins Licht und schaute in Tante Ellens schöne braune Augen. Als das Bild gemalt wurde, musste sie ungefähr sechzehn gewesen
sein - ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so schön gewesen war. Sie trug ein Kleid aus weißen Spitzen mit einer leuchtend blauen Schärpe. Seit ich mich erinnerte, war sie immer alt gewesen und hatte Schwarz getragen. Ich stellte das Gemälde neben die Tür; es gehörte über den Kamin in ihrem Salon.
Ich wandte mich wieder dem Dachboden zu und fand ihren zusammenklappbaren Schaukelstuhl und das Petit-point-Kissen mit dem Rosenmuster, das ich in dem Sommer, als ich fünfzehn war, gestickt hatte. Tante Ellen war der Meinung gewesen, Damen müssten handarbeiten können, also hatte ich es gelernt. Ich saß in ihrem Stuhl und roch den Veilchenduft, den sie so sehr geliebt hatte. Eine Träne trat mir in die Augen. Sie fehlte mir sehr.
Als junge Frau hatte ich mich für eine Rebellin gehalten, doch in Wahrheit hatte ich die Tanzstunden, die Nachmittagstees und die besonderen Einkaufsbummel genossen, bei denen Tante Ellen meinen Schrank mit Hüten und Handschuhen gefüllt hatte, weil »eine Dame das Haus nicht ohne Hut und Handschuhe verlässt«. Tatsächlich war es einer der Höhepunkte meiner Jugend gewesen, die Etikette einer viktorianischen Lady zu erlernen.
Aber zurück in die Gegenwart! Ich rieb mir die Augen. Unter den staubigen Relikten dieses vergangenen Zeitalters fand ich in einem großen Lederkoffer, in den ich sie nach ihrem Tod geräumt hatte, Tante Ellens dicke Familienbibel und ihren Stapel sorgsam gepflegter Fotoalben.
Ich schleppte einen Armvoll schwerer Bände in die Küche hinunter, kochte mir noch eine Kanne Tee und
begann die Alben nach einem Hinweis auf die Identität der schönen jungen Frau zu durchsuchen, die ich in meinem Zimmer gesehen hatte.
Das Vorsatzblatt der alten Bibel schien der beste Ausgangspunkt zu sein. Denn dort waren von 1842 an peinlich genau alle Hochzeiten, Geburten und Todesfälle aus fünf Generationen der Marks-Familie festgehalten. Ganz unten auf der Seite entdeckte ich meinen eigenen Namen in Tante Ellens ordentlicher, nüchterner Schrift. Darüber standen, von anderen Händen geschrieben, die Namen meines Vaters, meiner Mutter, meiner Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen.
An dem Tag, als sie mir das alte Bild gezeigt hatte, hatte Tante Ellen erwähnt, George, der Onkel ihrer Mutter, sei nach New york gefahren und hätte sie angefleht, nach Hause zu kommen. Also war er wahrscheinlich der Vater des in Schande gefallenen Mädchens. Ich ging zurück, bis ich die Namen von George Hector Marks - Tante Ellens Großonkel - und seiner Frau Emily entdeckte.
Nach den Einträgen in der Bibel war George Marks 1861 geboren, hatte 1884 geheiratet und drei Kinder gehabt. Das älteste, das im Juli 1885 geboren war, war ein Mädchen namens Aimee. 1889 und 1890 waren noch zwei Knaben zur Welt gekommen, Harold und Thomas.
Und da endete die Spur auf dem Papier auch schon.
Die Heirats- und Todesdaten der beiden Söhne waren ordentlich festgehalten. Harold war nicht alt geworden; er war 1917 im Ersten Weltkrieg in Frankreich gefallen. Und Thomas war 1969 in hohem Alter in Providence gestorben. Aber über Aimee Marks, die, wenn sie denn meine geisterhafte Besucherin war, auf dem Foto nicht
älter als fünfundzwanzig gewirkt hatte, gab es außer ihrem Geburtsdatum keinen weiteren Eintrag.
Frustriert schob ich die Bibel
Weitere Kostenlose Bücher