Die Frau vom Leuchtturm - Roman
beiseite und ging die alten Alben an. In den Jahrgängen zwischen 1900 und 1910 suchte ich nach dem Atelierfoto des Mädchens, das Tante Ellen mir kurz gezeigt hatte, obwohl sie nicht hatte sagen wollen, wer darauf abgebildet war.
Fast eine Stunde hatte ich schon geblättert, als mir von einem anderen Foto die dunklen Augen und das hübsche Gesicht meines Gespenstes entgegensahen. Es war keine Atelieraufnahme, sondern ein Gruppenfoto von mehreren jungen Leuten, die gemeinsam an einem Strand posierten.
Ich drehte das Bild um und entdeckte auf der Rückseite eine Notiz in schwacher Bleistiftschrift: »Aimees sechzehnter Geburtstag, Juli 1901.«
Obwohl das Mädchen auf dem Foto jünger war als mein Gespenst, war sie eindeutig dieselbe Person, die ich in meinem Zimmer gesehen hatte. Und wenn Aimee Marks 1885 geboren war, wäre sie im Sommer 1901 sechzehn geworden.
Ganz aufgeregt über meine Entdeckung schob ich das Album beiseite und nahm das Foto in Sepiatönen genau in Augenschein. Auf dem Bild war ein halbes Dutzend Teenager zu sehen. Die Mädchen trugen alle hochgeschlossene Schwimmkostüme, deren lange schwarze Strümpfe bis zu den Knöcheln hinunterreichten, und die Jungen komische gestreifte Badeanzüge und fesche Strohhüte. Zu Füßen der Geburtstagsgäste stand auf einer karierten Decke ein Picknickkorb, und in der Ferne war der vertraute Umriss des Leuchtturms von Maidenstone zu erkennen.
Im Zentrum der Aufnahme saß Aimee kokett auf einem schräg geneigten schwarzen Fahrrad, das von zwei lächelnden jungen Männern festgehalten wurde. Beide sahen sie eifersüchtig an. Und trotz des unförmigen dunklen Badekostüms, das feucht an ihrer schlanken Figur mit den hochangesetzten Brüsten klebte, konnte man die Faszination der Burschen nachvollziehen. Denn die sechzehnjährige Aimee Marks sah mit ihren langen, wohlgeformten Beinen, die auch ihre sittsamen langen Strümpfe nicht verbergen konnten, absolut umwerfend aus.
Obwohl die ganze Gruppe steif für das Bild posierte lag in Aimees Miene etwas, das sie von den anderen Mädchen auf dem Bild unterschied. Anders als die beiden Burschen, die in ihrer Verzauberung den Blick nicht von Aimee wenden konnten, blinzelten die anderen Mädchen alle unbeholfen in die Kamera - wahrscheinlich hatte der Fotograf die Sonne im Rücken gehabt.
Doch Aimees Blick richtete sich auf etwas anderes, auf jemanden oder etwas, das außerhalb der Reichweite der Linse lag.
Ich war entzückt über meine Entdeckung und arbeitete mich anschließend durch den Rest der Alben aus dieser Zeit, wobei ich jeden Moment damit rechnete, ein weiteres Bild des Mädchens zu finden. Ich musterte Dutzende verblasster Familienfotos, Hochzeitsaufnahmen und Schnappschüsse von sommerlichen Ausflügen, bis ich aus den sich langsam verändernden Moden, Frisuren und Automodellen schloss, dass ich in den 1920er Jahren angekommen war. Und ich war mir sicher, dass meine geisterhafte Besucherin auf keinen Fall so lange gelebt hatte.
Ich fand keine weiteren Aufnahmen von Aimee Marks mehr. Merkwürdigerweise war sogar die Atelieraufnahme, die Tante Ellen mir gezeigt hatte, nirgends mehr zu finden. Und auf keinem anderen unter Hunderten von Fotos, die während ihres kurzen Lebens von der Marks-Familie und ihren Freunden aufgenommen worden waren, war Aimee Marks noch einmal zu sehen.
Die ersten schwachen Strahlen der aufgehenden Sonne beleuchteten eine unheilverkündende Linie von Wolken, die über einem schiefergrauen Meer heranzogen. Ich schlug den letzten der dicken Bände zu.
Ich gelobte mir, genauere Nachforschungen über Aimees Leben anzustellen, sobald ich mich im Haus eingerichtet hatte. Dann ging ich erschöpft nach oben in mein Bett und konnte endlich schlafen. Merkwürdigerweise war ich in meinem Traum wieder ein Teenager.
Danny Freedman saß am Steuer seines alten roten Mustangs, und ich saß neben ihm. Der aufreizende Salsa-Rhythmus hämmerte im Takt zu dem Jaulen des Auspuffs, dessen Schalldämpfer entfernt worden war.
»Lass uns auf die Insel rausfahren und ein paar Bier trinken«, schlug Danny vor, legte den Arm um mich und zog mich an sich.
»Wohlerzogene junge Damen trinken kein Bier mit Handwerkern«, intonierte Tante Ellen von der schmalen Hinterbank des Mustangs aus. »Einer von dieser Sorte hat das Leben der armen Aimee ruiniert.«
Als ich fast elf Stunden später erwachte, wurde es über Freedman’s Cove schon wieder dunkel, und ein starker Wind, der von heftigen Regenböen
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