Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
Die Kirchuhr schlug gerade zwei. Ihr Kopf sank so schwer wie der einer Sterbenden auf ihre Brust. Als sie ihn wieder hob, stand plötzlich ihre Tante vor ihr, als hätte sich eine der Figuren aus der Wandbekleidung gelöst. »Was ist Ihnen, meine Kleine?« fragte die Tante; »warum sind Sie zu so später Stunde noch wach, und warum diese einsamen Tränen in Ihrem Alter?« Sie setzte sich ohne Umstände neben ihre Nichte und verschlang den angefangenen Brief mit den Augen. »Sie schreiben an Ihren Mann?« – »Weiß ich denn, wo er ist?« versetzte die Comtesse. Die Tante nahm das Blatt und las. Mit Vorbedacht hatte sie ihre Brille mitgebracht. Das arglose Geschöpf ließ sie den Brief ergreifen, ohne den geringsten Einwand zu machen. Es war weder ein Mangel an Würde noch ein heimliches Schuldgefühl, was ihr so alle Energie raubte, ihre Tante traf sie vielmehr eben in einer Krise, wo die Seele ohne Widerstand ist, wo alles gleichgültig ist, das Gute wie das Schlimme, das Schweigen ebenso wie das Vertrauen. Wie ein tugendhaftes junges Mädchen, das den Liebhaber zurückstößt, nun am Abend, wenn es traurig und verlassen ist, sich nach ihm sehnt und einem geliebten Herzen seinen Kummer anvertrauen möchte, so ließ Julie das Siegel verletzen, welches Feingefühl einem offenen Brief aufdrückt, und blieb in Gedanken versunken sitzen, während die Marquise las:
    ›Meine liebe Louisa, warum verlangst Du so oft die Erfüllung des unklügsten Versprechens, das sich zwei unwissende junge Mädchen geben können? Du fragst Dich oft, schreibst Du mir, warum ich seit sechs Monaten nicht auf Deine Fragen geantwortet habe. Wenn Du mein Schweigen nicht verstanden hast, so wirst Du heute vielleicht den Grund erraten, wenn Du die Geheimnisse erfährst, die ich enthüllen werde. Ich hätte sie für immer in meinem Herzen vergraben, wenn Du mir nicht Deine bevorstehende Heirat mitgeteilt hättest. Du willst Dich verheiraten, Louisa. Dieser Gedanke macht mich schaudern. Armes Kind, heirate; nach einigen Monaten wirst Du ein schneidendes Weh empfinden, wenn du daran denkst, was wir damals waren, als wir eines Abends in Écouen bei den höchsten Eichen des Berges zusammen das schöne Tal betrachteten, das zu unsern Füßen lag, und in den Anblick der untergehenden Sonne versunken waren, die uns in ihre letzten Gluten tauchte. Wir setzten uns auf einen Felsblock und gaben uns einem Entzücken hin, das sich allmählich in sanfte Melancholie verwandelte. Du fandest zuerst von uns beiden, daß uns die ferne Sonne von der Zukunft sprach. Wir waren neugierig und recht närrisch damals. Erinnerst Du Dich an alle unsere Tollheiten? Wir küßten uns, wie zwei Liebende, sagten wir. Wir schwören uns, daß die zuerst Verheiratete der andern getreulich alle Geheimnisse der Ehe erzählen sollte, jene Freuden, die unsere kindlichen Seelen uns so köstlich ausmalten. In der Erinnerung an diesen Abend wirst Du verzweifeln, Louisa. Damals warst Du jung, schön, sorglos, wenn nicht glücklich; ein Mann wird Dich in wenig Tagen so machen, wie ich schon bin: häßlich, leidend und alt. Wozu Dir sagen, wie ich stolz, eitel und voll Freude war, den Oberst Victor d'Aiglemont zu heiraten! Und wie könnte ich es Dir sagen, da ich mich kaum noch auf mich selbst besinne. In wenig Augenblicken ist mir meine Kindheit wie ein Traum geworden. Man fand mein Benehmen an dem feierlichen Tage, da ein Bund fürs Leben geweiht wurde, dessen Bedeutung mir verborgen war, tadelnswert. Mein Vater versuchte mehr als einmal meine Ausgelassenheit zu dämpfen, denn ich legte eine Freude an den Tag, die man unpassend fand. Meine Reden waren voll Mutwillen, gerade weil sie so arglos waren. Ich trieb ein kindisches Spiel mit dem Brautschleier, mit dem Kleid und den Blumen. Als ich in dem Zimmer allein war, in das man mich zeremoniell geführt hatte, sann ich auf einen Schabernack, um Victor zu necken; und während ich ihn erwartete, hatte ich Herzklopfen, wie früher als Kind am 31. Dezember, wenn ich mich, ohne gesehen zu werden, in den Salon geschlichen hatte, wo die Neujahrsgeschenke aufgehäuft waren. Als mein Mann eintrat und mich suchte, konnte ich unter den Schleiern, die mich einhüllten, ein ersticktes Lachen nicht zurückhalten, der letzte Ausbruch jener sanften Heiterkeit, die unsere kindlichen Spiele belebte ...‹
    Als die Marquise diesen Brief zu Ende gelesen hatte, der, nach einem solchen Anfang, noch Trauriges mitzuteilen bestimmt war, legte sie ihre Brille

Weitere Kostenlose Bücher