Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
Vom Netzwerk:
bedächtig auf den Tisch, tat den Brief daneben und richtete auf ihre Nichte den Blick ihrer grünen Augen, deren heller Strahl noch nicht vom Alter geschwächt war. »Meine Liebe«, sagte sie, »es hieße die Schicklichkeit verletzen, wenn eine verheiratete Frau so an ein junges Mädchen schriebe...« – »Ich denke das auch«, unterbrach Julie ihre Tante, »und während Sie lasen, schämte ich mich.« »Wenn uns bei Tisch eine Speise nicht schmeckt, sollen wir sie niemandem verekeln, mein Kind«, sagte die alte Frau gutmütig, »besonders da sich seit Evas Zeiten die Ehe als eine so glänzende Einrichtung erwiesen hat ... Sie haben keine Mutter mehr?« fragte die alte Frau. Die Comtesse zuckte zusammen, dann hob sie sanft den Kopf und sagte: »Ich habe den Verlust meiner Mutter seit einem Jahre schon oft genug beklagt; aber ich habe das Unrecht begangen, der Abneigung meines Vaters gegen Victor, der ihn nicht zum Schwiegersohn wollte, kein Gehör zu schenken.« Sie sah die Tante an, und eine Regung von Freude tat ihren Tränen Einhalt, als sie den Ausdruck von Güte bemerkte, der auf diesem alten Gesichte lag. Sie streckte der Marquise ihre junge Hand hin, welche danach zu verlangen schien; und als sie einander die Hände drückten, verstanden sich die beiden Frauen ganz und gar. »Armes, verwaistes Kind!« sagte die Marquise. Das war ein letzter Lichtstrahl für Julie. Sie meinte die prophetische Stimme ihres Vaters zu vernehmen. »Sie haben so heiße Hände! Sind sie immer so?« fragte die alte Frau. »Ich hatte bis vor etwa acht Tagen immer Fieber«, antwortete sie. »Sie hatten Fieber und verbargen es mir?« – »Ich habe es schon seit einem Jahr«, sagte Julie mit einer gewissen verschämten Angst. »Dann ist also die Ehe für Sie bisher nur lauter Schmerz gewesen, meine liebe Kleine?« Die junge Frau wagte nicht, zu antworten, aber sie machte eine bejahende Bewegung, welche all ihre Leiden verriet. »Sind Sie denn unglücklich?« – »Ach nein, Tante, Victor liebt mich abgöttisch, und ich liebe ihn auch, er ist ja so gut!« – »Ja, Sie lieben ihn; aber Sie fliehen ihn, nicht wahr?« – »Ja ... bisweilen ... Er sucht mich zu oft.« – »Ist Ihnen in der Einsamkeit manchmal bange davor, daß er überraschend kommen könnte?« – »Ach ja, in der Tat, Tante. Aber ich bin ihm doch gut, ich versichere es.« – »Klagen Sie sich nicht insgeheim an, daß Sie es nicht verstehen oder nicht vermögen, seine Liebesfreuden zu teilen? Denken Sie nicht manchmal, daß die eheliche Liebe schwerer zu ertragen ist, als es eine verbotene Leidenschaft wäre?« – »Oh! das ist es«, brachte sie unter Tränen hervor; »Sie erraten ja alles, wo für mich alles Rätsel ist. Meine Sinne sind benommen, ich habe keine Gedanken, das Leben wird mir schwer. Meine Seele liegt unter dem Druck einer unerklärlichen Angst, die über meine Gefühle Erstarrung bringt und mich m einer beständigen Betäubung hält. Ich habe keine Stimme, mich zu beklagen, und keine Worte, meinem Kummer Ausdruck zu geben. Ich leide und schäme mich zu leiden, wenn ich Victor über das glücklich sehe, was mich zu Tode martert.« – »Kinderei, Albernheit das alles!« rief die Tante, deren abgezehrtes Gesicht von einem heitern Lächeln, dem Widerschein der Freuden ihrer Jugend, erhellt wurde. »Sie lachen also darüber?« rief die junge Frau verzweifelt. »Ich bin auch so gewesen«, gab die Marquise schnell zur Antwort, »jetzt, wo Victor Sie allein gelassen hat, sind Sie da nicht wieder zum jungen Mädchen geworden, ruhig, ohne Freuden, aber auch ohne Leiden?«
    Julie machte große, verwunderte Augen. »Also, Sie lieben Victor, nicht wahr, mein Engel? Aber Sie möchten lieber seine Schwester sein als seine Frau, und die Ehe bekommt Ihnen schlecht?« – »Nun ja, wirklich, Tante. Aber warum lächeln Sie?« – »Oh, Sie haben recht, liebes Kind. All das ist nicht lustig. Ihre Zukunft könnte von manch einem Unglück bedroht sein, wenn ich Sie nicht unter meinen Schutz nähme und wenn meine lange Erfahrung nicht die sehr unschuldige Ursache Ihres Kummers erraten könnte. Mein Neffe verdient sein Glück nicht, der Dummkopf! Unter der Regierung unseres vielgeliebten Ludwig XV. hätte eine junge Frau, die sich in einer ähnlichen Lage wie Sie befunden hätte, ihren Mann, der sich so wie ein wahrer Landsknecht aufführt, schnell genug bestraft. Der Egoist! Die Soldaten dieses kaiserlichen Tyrannen sind alle abscheuliche Ignoranten. Sie halten

Weitere Kostenlose Bücher