Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Verstellung ihre Zuflucht, wie es kindliche Herzen, die einen Kummer haben, zu tun pflegen. Madame de Listomère begnügte sich mit Julies Antworten; aber es war ihr angenehm, daß ihre Einsamkeit von einem Liebesgeheimnis belebt zu werden versprach, denn ihre Nichte schien ihr mit irgendeinem amüsanten Liebeshandel beschäftigt zu sein. Als Madame d'Aiglemont sich in einem großen Salon befand, dessen Wandbekleidung von vergoldeten Leisten eingerahmt war, und sie am Kamin vor einem großen Feuer saß, durch einen großen chinesischen Wandschirm vor dem Fensterzug geschützt, konnte sie sich ihrer Traurigkeit kaum erwehren. Unter so altmodischem Getäfel, zwischen den hundertjährigen Möbeln konnte schwer Heiterkeit aufkommen. Doch fand die junge Pariserin ein gewisses Vergnügen darin, von der tiefen Einsamkeit und dem feierlichen Schweigen der Provinz umfangen zu werden. Nach ein paar Gesprächsworten mit dieser Tante, der sie als jungverheiratete Frau einen Brief geschrieben hatte, blieb sie stumm sitzen, als lausche sie der Musik einer Oper. Erst nach zwei Stunden eines Schweigens, würdig eines La Trappe, wurde sie sich ihrer Unhöflichkeit gegen die Tante bewußt, und es fiel ihr ein, daß sie ihr nur ein paar frostige Antworten gegeben hatte. Die alte Dame hatte aus feinem Taktgefühl, wie es den Leuten der alten Zeit eigen ist, die Laune ihrer Nichte respektiert. Jetzt strickte sie. Ein paarmal war sie auch hinausgegangen, um nach einem gewissen ›grünen‹ Zimmer zu sehen, in dem die Comtesse schlafen sollte und wo die Bedienten das Gepäck unterbrachten. Darauf hatte sie sich wieder in den großen Lehnstuhl niedergelassen und die junge Frau verstohlen angesehen. Julie war beschämt, daß sie sich ihrer unwiderstehlichen Träumerei überlassen hatte, und wollte dafür Verzeihung erlangen, indem sie darüber scherzte. »Meine liebe Kleine, wir kennen den Witwenschmerz«, antwortete die Tante.
Man hätte vierzig Jahre alt sein müssen, um die Ironie, die um die Lippen der alten Dame spielte, zu verstehen. Am nächsten Tage war die Comtesse viel heiterer gestimmt, sie plauderte. Madame de Listomère fand es nun nicht mehr so aussichtslos, diese junge Frau, die sie zuerst für ein blödes und dummes Geschöpf gehalten hatte, dazu zu bringen, aus sich herauszugehen; sie unterhielt sie mit den Vergnügungen des Landes, den Bällen und den Familien, die sie besuchen könnten. Alle Fragen der Marquise waren während dieses Tages ebenso viele Fallen, die sie nach einer alten, am Hofe erlernten Gewohnheit ihrer Nichte stellte, um deren Charakter zu erraten. Julie widerstand mehrere Tage lang allem Drängen, außer dem Hause Zerstreuungen zu suchen. Schließlich verzichtete die alte Dame darauf, sie unter die Leute führen zu wollen, obwohl sie mit der hübschen Nichte gern Staat gemacht hätte. Die Comtesse hatte in dem Kummer um den Tod ihres Vaters, um den sie noch Trauer trug, eine Entschuldigung für ihr Einsamkeitsbedürfnis gefunden. Nach acht Tagen bewunderte die Marquise die engelhafte Sanftmut, die bescheidene Grazie, das nachgiebige Wesen Julies und interessierte sich nun erst recht für die geheime Schwermut, die an dem jungen Herzen nagte. Die Comtesse war eine von jenen Frauen, die zur Liebenswürdigkeit geboren und die wie geschaffen sind, Glück um sich zu verbreiten. Ihre Gesellschaft wurde Madame de Listomère so angenehm und wertvoll, daß sie ihre Nichte mehr und mehr liebgewann und sie nicht mehr von sich zu lassen wünschte. Ein Monat genügte, um eine dauernde Freundschaft zwischen ihnen zu begründen. Die alte Dame bemerkte nicht ohne Verwunderung die Veränderungen, die in dem Gesicht Madame d'Aiglemonts vor sich gingen. Die lebhaften Farben, die darin geglüht hatten, erloschen allmählich, und der Teint wurde matter und blasser. Aber so wie Julie das Aussehen der ersten Tage verlor, wich ihre traurige Stimmung. Manchmal gelang es der Marquise, bei ihrer jungen Verwandten einen Anflug von Heiterkeit zu wecken oder ihr auch ein frohes Lachen zu entlocken, das nur zu bald wieder von einem trüben Gedanken verscheucht wurde. Sie erriet, daß weder die Erinnerung an den Vater noch die Abwesenheit Victors die wahre Ursache der tiefen Melancholie war, die einen Schleier über das Leben ihrer Nichte warf. Sie hatte so verschiedene schlimme Vermutungen, daß es ihr schwer wurde, sich für die wirkliche Ursache des Übels zu entscheiden, denn das Wahre enthüllt sich uns oft nur durch Zufall.
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