Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Lichtschirm in den Händen hin und her und hatte das gelangweilte Aussehen eines Mannes, der anderswo glücklich gewesen ist und ermattet vom Vergnügen heimkommt. Er gähnte mehrmals, ergriff dann mit einer Hand einen Leuchter, tastete mit der andern lässig nach dem Hals seiner Frau und wollte sie küssen; aber Julie bückte sich, reichte ihm ihre Stirn und empfing den Gutenachtkuß, einen lieblosen, mechanischen Kuß, eine grimassenhafte Gebärde, die sie nur zu sehr haßte. Als Victor die Tür geschlossen hatte, sank die Marquise in einen Stuhl; die Knie wankten ihr, sie brach in Tränen aus. Man muß selbst ähnliche Qualen erlitten haben, um alles, was diese Szene Schmerzliches barg, zu verstehen, um einen Begriff von der langen, schrecklichen Tragödie zu bekommen, die sie herbeiführte. Diese einfachen, nichtssagenden Worte, das Schweigen zwischen den beiden Ehegatten, die Mienen, die Blicke, die Art, in der der Marquis vor dem Feuer Platz genommen hatte, die Haltung, mit der er versucht hatte, den Hals seiner Frau zu küssen, alles war zusammengekommen, daß diese Stunde zu einer tragischen Wende in dem einsamen, schmerzensreichen Leben Julies führte. In wildem Taumel warf sie sich vor ihrem Diwan nieder, grub ihr Gesicht in die Kissen, um nichts zu sehen, und flehte zum Himmel, wobei sie den gewohnten Gebetsworten einen innigen Klang, einen neuen Sinn verlieh, die das Herz ihres Mannes hätten zerreißen müssen, wenn er sie gehört hätte. Sie beschäftigte sich acht Tage lang unaufhörlich mit ihrer Zukunft, ging völlig in ihrem Unglück auf, studierte es, suchte nach Mitteln, ihre Macht über den Marquis wiederzugewinnen, ohne ihr Herz zu belügen, und lange genug zu leben, um über das Glück ihrer Tochter zu wachen. Sie beschloß alsdann, mit ihrer Rivalin zu kämpfen, sich wieder in der Gesellschaft zu zeigen, dort zu glänzen, für ihren Mann eine Liebe zu heucheln, die sie nicht mehr empfinden konnte: ihn zu verführen. Wenn sie ihn sich dann durch ihre Künste wieder unterworfen haben würde, wollte sie die Koketterie jener launischen Mätressen gegen ihn spielen lassen, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihre Liebhaber zu quälen. Dieses widerwärtige Spiel erschien ihr als das einzige Mittel, sich gegen ihr Unglück zur Wehr zu setzen. Indem sie sich ihren Mann unterwarf und unter ein schreckliches Joch zwang, würde sie Herrin ihrer Leiden bleiben, ihnen gebieten können und ihre Anfälle seltener machen. Sie fühlte keine Gewissensbisse, ihm ein schweres Leben zu bereiten. Jählings stürzte sie sich in kaltblütige Berechnung. Um ihre Tochter zu retten, durchschaute sie mit einem Mal die Ränke und Lügen jener Geschöpfe, die nicht lieben, all den Trug der Koketterie, all die abscheulichen Schliche, die den Männern oft als angeborene Verderbtheit erscheinen und die ihnen die Frauen so verhaßt machen. Ihre weibliche Eitelkeit, ihr Eigennutz und ein unbestimmter Wunsch nach Rache verbanden sich ihr unbewußt mit ihrer Mutterliebe, um sie auf einen Weg zu treiben, auf dem nur neue Schmerzen ihrer warteten. Doch sie war zu edel, zu zartfühlend und zu freimütig, um sich lange mit solchem Betrug abzugeben. Da sie gewohnt war, in ihrem Innern zu lesen, mußte der Schrei ihres Gewissens beim ersten Schritt in das Laster – denn dies war Laster – die Stimme der Leidenschaft und Selbstsucht übertönen. In der Tat, bei einer Frau, deren Herz rein und deren Liebe jungfräulich geblieben ist, ist selbst die Mutterliebe dem Gefühl der Scham unterworfen. Ist nicht das Schamgefühl das ganze Weib? Doch Julie wollte keine Gefahr, keinen Irrtum in ihrem neuen Leben erkennen. Sie ging zu Madame de Sérisy. Ihre Rivalin erwartete eine blasse, welke Frau zu sehen. Die Marquise hatte Rouge aufgelegt und zeigte sich in dem Glanz einer prächtigen Toilette, die ihre Schönheit noch erhöhte.
Die Comtesse de Sérisy war eine jener Frauen, die sich anmaßen, eine Art Herrschaft über die Mode und die Gesellschaft in Paris auszuüben. Sie verkündete Urteilssprüche, die, wenn sie in dem Kreis, den sie beherrschte, angenommen wurden, für sie allgemeingültig zu sein schienen. Sie bildete sich ein, Schlagworte zu prägen und unumschränkte Richterin zu sein. Literatur, Politik, Männer und Frauen, alles unterlag ihrer Zensur; und Madame de Sérisy schien jeder Kritik der anderen Trotz zu bieten. Ihr Haus war in jeder Beziehung ein Muster des guten Geschmacks. Inmitten dieser Salons voll eleganter
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