Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Selbstvorwürfen Tränen, deren Bitterkeit nur von solchen Frauen verstanden werden kann, die sich in derselben Lage befunden haben. Man muß Julies Seele haben, um wie sie das Abscheuliche einer berechneten Liebkosung zu empfinden und um genauso wie sie von einem liebelosen Kuß abgestoßen zu sein; eine Abtrünnigkeit des Herzens, die noch durch eine quälende Prostitution verschlimmert wurde. Sie verachtete sich selbst, sie verfluchte die Ehe, sie wünschte sich den Tod; und hätte nicht ihre Tochter eben einen Schrei ausgestoßen, so hätte sie sich vielleicht durch das Fenster aufs Pflaster gestürzt. Monsieur d'Aiglemont schlief ungestört neben ihr, ohne von den heißen Tränen, die seine Frau auf ihn fallen ließ, geweckt zu werden. Am nächsten Morgen konnte sich Julie heiter zeigen. Sie fand die Kraft, glücklich zu scheinen, und bemühte sich, nicht mehr nur ihre Melancholie, sondern auch einen unüberwindlichen Abscheu zu verbergen. Von dem Tage an betrachtete sie sich nicht mehr als eine untadelhafte Frau. Hatte sie nicht gegen sich selber gefrevelt? Hatte sie sich nicht der Heuchelei fähig gezeigt und eine Probe von der tiefen Verstellung gegeben, die sie im Laufe ihrer Ehe in weit größerem Maße entfalten sollte? Ihre Ehe war die Ursache dieser Verderbtheit ›a priori‹, die sich noch an nichts betätigte. Jedoch hatte sie sich schon gefragt, warum sie einem geliebten Liebhaber Widerstand leistete, wenn sie sich gegen ihr Gefühl und gegen den Willen der Natur einem Ehemann hingab, den sie nicht mehr liebte? Allen Fehlern, ja vielleicht sogar den Verbrechen liegt ein falscher Schluß oder ein Übermaß an Egoismus zugrunde. Die Gesellschaft kann nur durch die individuellen Opfer, die die Gesetze fordern, existieren. Wenn man die Vorteile genießt, verpflichtet man sich da nicht, die Bedingungen aufrechtzuerhalten, kraft welcher sie bestehen? Die Unglücklichen, die kein Brot haben und gezwungen sind, das Eigentum zu respektieren, sind nicht weniger zu beklagen als die in ihren Sehnsüchten und in den feinen Fasern ihres Seelenlebens verwundeten Frauen. Einige Tage nach dieser Szene, deren Geheimnisse im Ehebett begraben wurden, stellte d'Aiglemont Lord Grenville seiner Frau vor. Julie empfing Arthur mit einer kalten Höflichkeit, die ihrer Verstellungskunst Ehre machte. Sie gebot ihrem Herzen Schweigen, verschleierte ihre Blicke, lieh ihrer Stimme Festigkeit und konnte so Herrin ihres Schicksals bleiben. Nachdem sie dann mit der den Frauen sozusagen angeborenen Fähigkeit den ganzen Umfang der Liebe, die sie eingeflößt, erkannt hatte, nahm Madame d'Aiglemont die Aussicht auf eine baldige Heilung freudig auf und setzte dem Willen ihres Mannes, der sie zwang, die Kunst des jungen Arztes an sich erproben zu lassen, keinen Widerstand mehr entgegen. Trotzdem wollte sie sich nicht eher Lord Grenville anvertrauen, bis sie nicht seine Worte und sein Wesen so weit studiert hatte, um sicher zu sein, daß er den Edelmut besaß, stillschweigend zu leiden. Sie hatte unumschränkte Macht über ihn und mißbrauchte sie schon: war sie nicht eine Frau?
Montcontour ist ein alter Herrensitz auf einem jener hellen Felsen, an deren Fuß die Loire vorbeifließt, nicht weit von der Stelle entfernt, wo Julie im Jahre 1814 haltgemacht hatte. Es ist eins von den hübschen kleinen weißen Schlössern der Touraine, die mit ihren kunstvoll ausgehauenen Türmchen aussehen, als seien sie mit Mechelner Spitzen bestickt, eins jener schmucken, zierlichen Schlösser, die sich mit ihren Sträußen von Maulbeerbäumen, ihren Weinbergen, ihren Hohlwegen, ihren langen, durchbrochenen Geländern, ihren in den Fels gehauenen Kellern, ihren Efeuwänden und steilen Abhängen in den Fluten des Stromes spiegeln. Die Dächer von Montcontour glitzern in den Sonnenstrahlen, alles ist dort durchglüht und feurig. Tausend Erinnerungen an Spanien verklären diesen entzückenden Wohnsitz: der goldfarbene Ginster, die Glockenblumen erfüllen den Wind mit Wohlgerüchen; die Luft schmeichelt, die Erde lächelt überall, und überall hüllt ein sanfter Zauber die Seele ein, macht sie träge, verliebt, weich und wiegt sie in Träumerei. Diese schöne, unendlich liebliche Flur schläfert die Schmerzen ein und erweckt die Leidenschaften. Niemand bleibt ungerührt unter diesem reinen Himmel, vor diesem glitzernden Wasser. Mancher Ehrgeiz erlischt da; man legt sich in dem Schoß eines ruhigen Glückes nieder, wie die Sonne jeden Abend in ihren azurnen
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