Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
entwöhnt. Diese Abkühlung einer schon an und für sich lauen und ganz egoistischen Neigung konnte mehr als ein Unglück herbeiführen, das sie mit ihrem feinen Takt und ihrer Klugheit voraussah. Obwohl sie sicher war, eine große Macht über Victor zu behalten und für immer seine Achtung erlangt zu haben, so fürchtete sie doch den Einfluß der Leidenschaften auf einen so unselbständigen und eingebildeten Menschen. Oft fanden ihre Freunde Julie in Betrachtungen versunken; die weniger hell sehenden fragten sie scherzend nach dem Grund, als ob eine junge Frau nur an eitle Dinge denken könne und hinter den Gedanken einer Familienmutter nicht meistens der Ernst steckte. Das Unglück verführt ebenso zur Träumerei wie das wahre Glück. Oft, wenn Julie mit ihrer Hélène spielte, betrachtete sie diese mit finsterem Blick und antwortete nicht auf die kindlichen Fragen, die die Mütter so zu beglücken pflegen, weil sie von Gegenwart und Zukunft Aufschluß über ihr Schicksal forderte. Wenn sie sich dann zuweilen der Szene in den Tuilerien erinnerte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Die vorahnenden Worte ihres Vaters klangen ihr von neuem im Ohr, und sie warf sich vor, seine Weisheit verkannt zu haben. Von diesem törichten Ungehorsam rührte alles Unglück her, und oft wußte sie nicht, welches von ihren Leiden am schwersten zu tragen war. Nicht nur, daß ihr Mann keine Ahnung von den Reichtümern ihres Herzens hatte, sie konnte sich mit ihm nicht einmal über die gewöhnlichsten Angelegenheiten des Lebens verständigen. Gerade zu der Zeit, als die Fähigkeit zu lieben sich stärker und lebhafter in ihr entwickelte, verflüchtigte sich die erlaubte, die eheliche Liebe inmitten schwerer seelischer und physischer Leiden. Schließlich hatte sie für ihren Mann nur mehr das an Verachtung grenzende Mitleid, das auf die Dauer alle Gefühle ankränkelt. Aus Unterhaltungen mit Freunden, aus Beispielen und mancherlei Abenteuern der Gesellschaft erriet sie wohl, welches unendliche Glück die Liebe in sich bergen mußte; aber auch ihr verwundetes Herz selber überkam manchmal ein Vorgefühl der tiefen, reinen Freuden, in denen sich geschwisterliche Seelen vereinigen. In dem Bilde, das ihr Gedächtnis von der Vergangenheit erstehen ließ, erschien das treue Gesicht Arthurs mit jedem Tage reiner und schöner, aber flüchtig; denn sie wagte nicht, sich bei dieser Erinnerung aufzuhalten. Die schweigsame, schüchterne Liebe des jungen Engländers war das einzige Ereignis, das in der Zeit ihrer Ehe einige sanfte Spuren in ihrem traurigen, einsamen Herzen hinterlassen hatte. Vielleicht daß alle enttäuschten Hoffnungen, alle fehlgegangenen Wünsche, die nach und nach Julies Geist verdüsterten, sich durch ein natürliches Spiel der Phantasie auf diesen Mann bezogen, dessen Art, Gefühl und Charakter so viel Einklang mit den ihrigen aufzuweisen schienen. Doch dieser Gedanke kam ihr immer wie ein Traum, eine Laune vor. Sie erwachte aus diesen immer in Seufzern endenden Wahngebilden unglücklicher als zuvor und fühlte ihre verborgenen Schmerzen hernach um so stärker, wenn sie diese unter den Fittichen eines erträumten Glückes eingeschläfert hatte. Oft gewannen ihre Klagen einen Charakter von Torheit und Verwegenheit, sie wollte Glück um jeden Preis; aber öfter noch verharrte sie in irgendeiner stumpfen Betäubung, hörte zu, ohne zu verstehen, oder faßte so vage und unbestimmte Gedanken, daß sie keine Worte hätte finden können, sie auszudrücken. Sie war in ihren innersten Regungen verletzt, durfte ihr Leben nicht so führen, wie sie es als junges Mädchen erträumt hatte, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihre Tränen zu ersticken. Bei wem hätte sie sich beklagen sollen? Wer hätte sie verstanden? Überdies hatte sie jenes äußerste weibliche Zartgefühl, jene köstliche Schamhaftigkeit, die darin besteht, jede unnütze Klage zu unterdrücken und keinen Vorteil daraus zu ziehen, daß der Triumph den Sieger und den Besiegten in gleicher Weise beschämen muß. Julie versuchte, Monsieur d'Aiglemont mit ihren eigenen Tugenden und Gaben auszustatten, und rühmte sich, das Glück zu genießen, das sie entbehrte. Sie wandte ihre ganze weibliche Klugheit auf, ihren Mann zu schonen, der nie etwas davon erfuhr und im übrigen durch ihre Art nur noch mehr in seinem Despotismus bestärkt wurde. Zeitweise war sie wie trunken von Unglück, völlig gedankenlos, zügellos; zum Glück führte ihre aufrichtige Frömmigkeit sie
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