Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Wirklichkeit aber entsetzlich war. Was hatten ihr die schone Keuschheit ihrer Jugend, die Wonnen, denen sie entsagt, die Opfer, die sie der Welt gebracht hatte, genutzt? Obwohl alles an ihr Liebe ausdrückte und Liebe erwartete, fragte sie sich doch, was ihr jetzt die Harmonie ihrer Bewegungen, ihr Lächeln und ihre Grazie sollten? Sowenig man einen Ton hören mag, der sinnlos und endlos immer wiederholt wird, so wenig liebte sie es jetzt mehr, daß sie in sich selbst Frische und Sinneslust verspürte. Selbst ihre Schönheit war ihr unerträglich, wie etwas Unnützes. Sie sah mit Entsetzen voraus, daß sie nie mehr ein ganzer Mensch sein würde. Hatte nicht ihr inneres Ich die Gabe verloren, die Eindrücke des Neuen, das so köstlich ist und so viel Heiterkeit in das Leben bringt, zu kosten? In Zukunft würden die meisten dieser Eindrücke oft so schnell verlöscht wie empfangen sein, und viele von ihnen, die sie früher bewegt hatten, würden ihr nun gleichgültig sein. Nach der Kindheit des Leibes kommt die Kindlichkeit des Herzens. Diese zweite Kindheit aber hatte ihr Geliebter mit ins Grab genommen. Ihre leiblichen Begierden waren noch jung, aber sie hatte nicht mehr die ganze Jugend der Seele, die allem im Leben seinen Wert und seinen Duft gibt. Würde sie nicht ein Spüren der Traurigkeit, des Mißtrauens in sich behalten, die ihren Regungen die spontane Frische, den unmittelbaren Schwung rauben würden? Denn nichts konnte ihr das Glück wiederbringen, das sie erhofft, das sie sich so herrlich erträumt hatte. Ihre ersten wirklichen Tränen hatten das himmlische Feuer, das die ersten Regungen des Herzens erwärmt, ausgelöscht; sie würde immer dafür büßen müssen, daß sie nicht war, was sie hätte sein können. Aus diesem Glauben muß der bittere Ekel entstehen, der einen dazu bringt, den Kopf abzuwenden, wenn sich von neuem das Glück einstellen will. Sie urteilte jetzt über das Leben wie ein Greis, der bereit ist, aus ihm zu scheiden. Sie fühlte sich jung, und doch lasteten ihr die unzähligen freudlosen Tage ihres Lebens auf der Seele, vernichteten sie und ließen sie vor der Zeit altern. Verzweifelt schrie sie der Welt die Frage zu, was sie ihr zum Ersatz für die Liebe, die ihr zu leben geholfen und die sie verloren hatte, geben könnte. Sie fragte sich, ob in ihrer entschwundenen Liebe, die so keusch und rein gewesen war, der Gedanke nicht strafbarer gewesen wäre als die Tat. Es bereitete ihr Genuß, sich schuldig zu sprechen, der Welt zu spotten und sich darüber hinwegzutrösten, daß sie mit dem, den sie beweinte, nicht die völlige Vereinigung gehabt hatte, welche zwei Seelen verschmilzt und den Schmerz der Seele, die zurückbleibt, lindert, weil sie sicher ist, das Glück völlig genossen, es ganz gegeben zu haben, und in sich das Bild dessen, der nicht mehr ist, bewahrt. Sie war unzufrieden wie eine Schauspielerin, die ihre Rolle verfehlt hat, denn dieser Schmerz griff all ihre Fibern, das Herz und den Kopf an. Wenn die Natur in ihren geheimsten Wünschen verwundet war, war ebensosehr auch die Eitelkeit, war auch die Großmut, die die Frau zur Selbstaufopferung treibt, verletzt. Sie warf alle Fragen auf, wühlte alle Tiefen der verschiedenen Wesen, die auf Grund der sozialen, geistigen und psychischen Natur in uns vereint sind, auf und schwächte dadurch so sehr die Kräfte ihrer Seele, daß sie vor lauter widersprüchlich auf sie einstürmenden Gedanken überhaupt nichts mehr fassen konnte. So stand sie manchmal, wenn der Nebel fiel, am offenen Fenster, blieb gedankenlos stehen und atmete nur mechanisch den feuchten, erdigen Duft, der in den Lüften lag. Sie stand unbeweglich und wie schwachsinnig, denn das Sausen ihres Schmerzes machte sie in gleicher Weise für die Harmonien der Natur wie für die Reize des Denkens taub.
Eines Tages trat gegen Mittag, als eben die Sonne den Himmel aufgehellt hatte, ihre Zofe ungerufen ein und meldete: »Jetzt ist schon zum viertenmal der Herr Pfarrer gekommen, um Madame einen Besuch abzustatten; und er besteht heute so beharrlich darauf, daß wir nicht wissen, was wir ihm antworten sollen.« »Er will zweifellos etwas Geld für die Armen der Gemeinde; übergeben Sie ihm in meinem Namen fünfundzwanzig Louisdor.«
Einen Augenblick später erschien die Zofe schon wieder.
»Madame«, sagte sie, »der Pfarrer weist das Geld zurück und wünscht Sie zu sprechen.« – »So mag er kommen!« erwiderte die Marquise. Die mißlaunige Gebärde, die ihr dabei
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