Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
kann. Sie hatte einen unverhofften Vertrauten. Aber bald fiel sie in ihre bitteren Betrachtungen zurück und sagte sich wie der Gefangene, ein Leidensgefährte könnte weder ihre Fesseln noch ihre Zukunft erleichtern. Der Pfarrer hatte bei einem ersten Besuch einen völlig selbstsüchtigen Schmerz nicht zu sehr aufwühlen wollen; aber er hoffte, seiner Geschicklichkeit würde es bei einem zweiten Besuch gelingen, sie der Religion geneigter zu machen. Am übernächsten Tage kam er also, und der Empfang durch die Marquise zeigte ihm, daß sein Besuch erwünscht war.
»Nun, Madame la Marquise«, fragte der Greis, »haben Sie über die Fülle der menschlichen Leiden etwas nachgedacht? Haben Sie die Augen gen Himmel gerichtet? Haben Sie dort die Unendlichkeit von Welten gesehen, die unsere Wichtigkeit vermindert, unsere Eitelkeit vernichtet und dadurch unsern Schmerz lindert?« – »Nein, Monsieur«, war ihre Antwort; »die Gesetze der Gesellschaft lasten mir zu stark auf dem Herzen und zerreißen es mir zu heftig, als daß ich mich zu den Himmeln erheben könnte. Aber die Gesetze sind vielleicht weniger grausam als die Bräuche der Gesellschaft. Oh, die Gesellschaft!« – »Wir sollen dem einen wie dem andern gehorchen: das Gesetz ist das Wort, und die Bräuche sind die Handlungen der Gesellschaft.« – »Der Gesellschaft gehorchen? ...« versetzte die Marquise mit einer Gebärde des Abscheus. »Oh, Monsieur, daher stammen all unsere Übel und Leiden. Gott hat nicht ein einziges Gesetz des Unglücks gemacht; aber die Menschen haben, als sie sich zusammenschlossen, sein Werk verfälscht. Wir Frauen werden von der Zivilisation mehr mißhandelt, als die Natur es tun würde. Die Natur legt uns physische Qualen auf, die ihr nicht gemildert habt, und die Zivilisation hat Gefühle zur Entfaltung gebracht, die ihr unaufhörlich täuscht. Die Natur unterdrückt die schwachen Geschöpfe, ihr verurteilt sie zu leben, um sie dauerndem Unglück auszuliefern. Die Ehe, diese Einrichtung, auf die sich die Gesellschaft heute stützt, läßt uns allein ihre ganze Last fühlen; für den Mann die Freiheit, für die Frau Pflichten. Wir sind euch unser ganzes Leben schuldig; ihr schuldet uns von eurem nur seltene Augenblicke. Kurz, der Mann hat die Wahl, wo wir uns blind unterwerfen. Oh, Monsieur, Ihnen kann ich alles sagen! Hören Sie! Die Ehe, wie sie heute ist, scheint mir eine gesetzliche Prostitution zu sein. Darin liegt die Quelle meiner Leiden. Aber ich allein unter all den unglücklichen Geschöpfen, die so unselig verkuppelt sind, muß schweigen! Ich allein bin schuld an meinem Unglück, ich habe meine Ehe gewollt.«
Sie brach ab, vergoß bittere Tränen und schwieg.
»In diesem tiefen Elend, in diesem Ozean des Wehs«, fing sie dann wieder an, »hatte ich eine kleine Sandbank gefunden, auf die ich die Füße setzen konnte, wo ich leiden konnte, wie mirs ums Herz war; ein Orkan hat alles weggerissen. Nun bin ich allein, ohne Stütze, zu schwach gegen die Stürme.« – »Wir sind nie schwach, wenn Gott mit uns ist«, sagte der Priester; »und wenn Sie übrigens keine zärtlichen Bande haben, die Sie an die Erde fesseln, haben Sie keine Pflichten zu erfüllen?« – »Pflichten und immer Pflichten!« rief sie ungeduldig; »aber wo sind für mich die Gefühle, die uns die Kraft geben, sie zu erfüllen? Monsieur, für nichts gibt es nichts, und von nichts kommt nichts; das ist eins der gerechtesten Gesetze in der moralischen und physischen Welt. Verlangen Sie von diesen Bäumen, sie sollten ihre Blätter ohne den Saft erzeugen, der sie zur Entfaltung bringt? Die Seele hat auch ihren Saft! Bei mir ist der Saft in seiner Quelle vertrocknet.« – »Ich will Ihnen nicht von den religiösen Empfindungen sprechen, welche die Entsagung hervorbringen«, sagte der Pfarrer; »aber, Madame, sollte nicht die Mutterschaft...« – »Hören Sie auf!« unterbrach ihn die Marquise; »zu Ihnen werde ich wahr sein. Ach, ich kann es künftig zu niemandem sein. Ich bin zur Falschheit verurteilt; die Welt verlangt Masken und befiehlt, wenn wir uns nicht ihren Tadel zuziehen wollen, ihren Konventionen zu gehorchen. Es gibt zweierlei Mutterschaft, Monsieur. Früher habe ich von diesem Unterschied nichts gewußt; heute kenne ich ihn. Ich bin nur zur Hälfte Mutter; es wäre besser, es gar nicht zu sein. Hélène ist nicht von ihm! Oh, schrecken Sie nicht zurück! Saint-Lange ist ein Schlund, in dem viele falsche Empfindungen versunken sind, wo das
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