Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Leid noch, um so ungeheuer zu sein, um so auf Seele und Leib zu lasten, sich in einem Augenblick des Lebens einstellen, wo alle Kräfte der Seele und des Körpers jung sind, und so ein Herz in seiner ganzen Lebensfülle zerschmettern. Dann schlägt es eine tiefe Wunde, die Qual ist groß, und kein Mensch kann aus dieser Krankheit ohne innere Wandlung hervorgehen: entweder schlägt er den Weg zum Himmel ein, oder er kehrt, wenn er hier unten bleibt, ins Getriebe der Welt zurück, um sich vor der Welt zu verstellen, um eine Rolle in ihr zu spielen; von jetzt ab kennt er die Kulissen, hinter die man sich zurückzieht, wenn man etwas bedenken, wenn man weinen oder sich vergnügen will. Nach dieser schweren Krise gibt es keine Geheimnisse mehr im Leben der Gesellschaft, das von da ab einem unerbittlichen Urteil unterzogen wird. Bei jungen Frauen im Alter der Marquise wird dieser erste, dieser marterndste aller Schmerzen immer von demselben Geschehnis bewirkt. Die Frau, und besonders die junge Frau, deren Seele ebenso schön ist wie ihr Leib, wird ihr Leben immer dort voll hingeben, wohin die Natur, das Gefühl und die Gesellschaft sie treiben. Wenn sie in diesem Leben Schiffbruch erleidet und sie auf Erden bleibt, steht sie aus dem gleichen Grund, der die erste Liebe zum schönsten aller Gefühle macht, die grausamsten Martern aus. Warum hat es für dieses Elend nie einen Maler, nie einen Dichter gegeben? Ja, kann es denn gemalt, kann es besungen werden? Nein, die Schmerzen, die ein solches Unglück hervorbringt, entziehen sich der Analyse und den Farben der Kunst. Und überdies werden diese Leiden niemals jemandem anvertraut; wer eine Frau trösten will, muß den Schmerz erraten können; denn immer wird das Leid in Bitterkeit gehüllt und inbrünstig empfunden, und so ruht es im Herzen wie eine Lawine, die, wenn sie ins Tal rollt, dort alles verwüstet, bevor sie liegenbleibt.
Die Marquise war eine Beute dieser Leiden, die lange im Dunkel bleiben, weil alle Welt sie verdammt, das gefühlvolle Herz hingegen hegt sie zärtlich, und das Gewissen einer wahrhaften Frau rechtfertigt sie immer. Mit diesen Schmerzen verhält es sich wie mit solchen Kindern, die vom Leben immer wieder zurückgestoßen werden und doch mit stärkeren Banden ans Herz der Mutter gefesselt sind als ihre mit mehr Glück begabten Kinder. Niemals vielleicht war eine solch furchtbare Katastrophe, die alles, was es an Leben um uns herum gibt, tötet, so stark, so vollständig, so durch die Umstände verschärft wie bei der Marquise. Ein junger, großherziger, geliebter Mann, dessen Wünsche, den Gesetzen der Gesellschaft gehorchend, sie nie erhört hatte, war gestorben, um ihr das zu erhalten, was die Welt ›die Ehre der Frau‹ nennt. Wem konnte sie sagen: ›Ich leide!‹ Ihre Tränen hätten ihren Gatten, der die erste Ursache der Katastrophe war, gekränkt. Die Gesetze, die Sitten verfemten ihre Klagen; einer Freundin hätten sie Behagen gemacht; ein Mann hätte sie spekuliert. Nein, diese arme Trauernde konnte nur in der Verlassenheit nach Herzenslust weinen; dort konnte sie ihr Leiden überwinden oder von ihm überwunden werden, sterben oder etwas in sich, vielleicht ihr Gewissen, töten. So starrte sie seit ein paar Tagen über die trostlose Öde dieser Landschaft, wo sie, wie in ihrem künftigen Leben, nichts zu suchen, nichts zu hoffen hatte, wo alles mit einem Blick zu sehen war und wo sie die Bilder der kalten Hoffnungslosigkeit sah, die ihr unablässig das Herz zerriß. Die Morgennebel, der matte Himmel, die tiefhängenden Wolken unter einem bleigrauen Firmament standen in Einklang mit der Krankheit ihres Gemüts. Ihr Herz krampfte sich nicht mehr zusammen, welkte nicht mehr dahin; nein, ihre frische, blühende Natur wurde durch die langsame Wirkung eines Schmerzes, der unerträglich, weil er endlos war, allmählich zu Stein. Sie litt durch sich und für sich. Muß ein derartiges Leid nicht zum Egoismus führen? Furchtbare Gedanken drangen in ihr Gewissen und verwundeten es. Sie ging ehrlich mit sich zu Rate und fand zwei Wesen in sich. Es gab in ihr eine Frau, die überlegte, und eine, die empfand; eine Frau, die litt, und eine, die nicht mehr leiden wollte. Sie versetzte sich in die Freuden ihrer Kindheit zurück, die verstrichen war, ohne daß sie ihr Glück empfunden hätte, und deren lichte Bilder in großer Anzahl auf sie eindrangen, wie um ihr die Enttäuschungen einer Ehe vorzuhalten, die in den Augen der Gesellschaft schicklich, in
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