Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
jungen Leute kennen, die sich ihren Leidenschaften überlassen und nie Zeit für Familienzärtlichkeiten haben, würden Sie an einem einzigen Zuge merken, wie lebhaft ihre Liebe zu einem einsamen alten Mann war, der nur noch durch sie und für sie lebte. Es verging keine Woche, wo er nicht einen Brief von einem seiner Kinder erhielt. Aber er war auch nie gegen sie schwach gewesen, wodurch die Kinder den Respekt verlieren, noch unbillig streng, was sie verletzt, und geizte auch nicht mit Opfern, womit man sie sich entfremdet. Nein, er war mehr als ein Vater gewesen, er hatte sich zu ihrem Bruder, ihrem Freund gemacht. Kurz, er sagte ihnen in Paris Lebewohl, als sie zum Zuge nach Belgien aufbrachen; er wollte sehen, ob sie gute Pferde hatten, ob ihnen nichts fehlte. Sie zogen ab, und der Vater kehrte nach Hause zurück. Der Krieg fängt an, er erhält Briefe von ihnen aus Fleurus, aus Ligny; alles ging gut. Die Schlacht von Waterloo wird geschlagen; was dann kam, wissen Sie. Frankreich wurde mit einem Schlage in Trauer versetzt. Alle Familien waren in der furchtbarsten Angst. Er, Madame, das verstehen Sie wohl, wartete voller Aufregung; er hatte keine Rast und keine Ruhe mehr; er las die Zeitungen, er ging jeden Tag selbst auf die Post. Eines Abends meldete man ihm den Burschen seines Sohnes, des Obersten. Er sieht diesen Mann auf dem Pferde seines Herrn sitzen, und es war keine Frage mehr nötig: der Oberst war tot, eine Kartätsche hatte ihn auseinandergerissen. Am späten Abend kam der Bursche des jüngsten zu Fuß; der jüngste war am Tage nach der Schlacht ums Lehen gekommen. Um Mitternacht endlich kam ein Artillerist an und meldete ihm den Tod des letzten Kindes, auf dessen Haupt der arme Vater in den paar Stunden sein ganzes Lehen gesetzt hatte. Ja, Madame, sie waren alle gefallen!«
Nach einer Pause, in der der Priester seine Bewegung niedergekämpft hatte, fuhr er mit sanfter Stimme fort: »Und der Vater ist am Leben geblieben. Er hat begriffen, daß er, wenn Gott ihn auf Erden ließ, eben hienieden weiter leiden sollte, und das tut er; aber er hat sich in den Schoß der Religion geflüchtet. Was konnte aus ihm werden?«
Die Marquise richtete den Blick auf das Gesicht dieses Pfarrers, das in Leid und Entsagung erhaben schon geworden war. Sie wartete auf das Wort, das ihre Tränen zum Fließen bringen würde.
»Priester, Madame; die Tränen hatten ihn geweiht, ehe er vor dem Altar die Weihen erhielt.«
Es herrschte eine Weile Schweigen. Die Marquise und der Pfarrer sahen durch das Fenster in die nebelverhangene Ferne, als ob sie die sehen könnten, die nicht mehr waren.
»Nicht Priester in einer Stadt, sondern ein schlichter Dorfpfarrer«, fügte er noch hinzu. »In Saint-Lange«, sagte sie und trocknete sich die Tränen. »Ja, Madame.«
Niemals hatte sich die Majestät des Schmerzes Julie erhabener gezeigt; und dieses ›Ja, Madame‹ fiel mit dem Gewicht eines unendlichen Schmerzes auf ihr Herz. Diese Stimme, die im Ohr so sanft klang, erschütterte sie bis ins Innerste. Oh, das war die Stimme des Elends, diese volle, schwere Stimme, die sie unwiderstehlich in ihren Bann zu ziehen schien.
»Monsieur«, sagte die Marquise fast ehrerbietig, »wenn ich nun nicht sterbe, was soll dann aus mir werden?« – »Madame, haben Sie nicht ein Kind?« – »O ja«, antwortete sie kalt.
Der Pfarrer warf dieser Frau einen Blick zu, wie ihn ein Arzt auf einen Schwerkranken wirft. Er beschloß, alles aufzubieten, um sie dem Geist des Bösen zu entreißen, der schon die Hand nach ihr ausstreckte.
»Sie sehen, Madame, wir müssen mit unsern Schmerzen leben, und nur die Religion kann uns wahren Trost gewähren. Wollen Sie mir erlauben, wiederzukommen und Sie die Stimme eines Mannes hören zu lassen, der mit allem Leid mitfühlen kann und der, glaube ich, nicht gerade etwas Abstoßendes an sich hat?« – »Ja, Monsieur, kommen Sie. Ich danke Ihnen, daß Sie an mich gedacht haben.« – »Dann, Madame, auf Wiedersehen!«
Dieser Besuch entspannte die Seele der Marquise, deren Kräfte durch den Kummer und die Einsamkeit zu heftig gereizt worden waren. Der Priester hatte Balsam in ihr Herz geträufelt und den heilsamen Klang religiöser Worte dort zurückgelassen. Sie empfand jene Genugtuung, die den Gefangenen tröstet, wenn er erst erkannt hat, wie tief seine Verlassenheit und wie schwer seine Ketten sind, und nun einen Nachbar findet, der an die Wand klopft und mit dem er durch Klopfzeichen seine Gedanken austauschen
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