Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
entschlüpfte, deutete an, daß der Priester, dessen Verfolgungen sie jedenfalls durch eine kurze und offene Erklärung ein Ende machen wollte, einen üblen Empfang finden würde.
Die Marquise hatte in jungen Jahren ihre Mutter verloren, und ihre Erziehung war natürlich durch die Lockerung der religiösen Bande in der Revolutionszeit beeinflußt worden. Die Frömmigkeit ist eine Frauentugend, die nur Frauen gut weiterzugeben verstehen, und die Marquise war ein Kind des achtzehnten Jahrhunderts, dessen philosophische Anschauungen von ihrem Vater geteilt wurden. Sie beobachtete keinerlei religiöse Bräuche. Für sie war ein Priester ein öffentlicher Beamter, dessen Nutzen ihr zweifelhaft schien. In ihrer Lage konnte die Stimme der Religion ihre Leiden nur verschlimmern; sie hatte zu den Dorfgeistlichen und ihrem Intellekt nur mäßiges Zutrauen; sie beschloß also, ihren Pfarrer ohne Schärfe zurückzuweisen und ihn nach Art reicher Leute durch einen Akt der Wohltätigkeit loszuwerden. Der Geistliche kam, und sein Anblick änderte die Meinung der Marquise nicht. Sie sah ein dickes Männchen mit einem vorspringenden Bauch und einem rötlichen, aber alten und runzligen Gesicht, das zu einem Lächeln verzogen war, was ihm aber schlecht gelang; sein kahler, von zahlreichen Querfalten durchfurchter Schädel fiel in Form eines Quadranten auf sein Gesicht und verkleinerte es; ein paar weiße Haare schmückten seinen Hinterkopf über dem Nacken und setzten sich vorn bis zu den Ohren fort. Trotzdem verriet die Physiognomie dieses Priesters einen Mann von heiterem Naturell. Seine dicken Lippen, seine leicht aufgestülpte Nase, sein faltiges Doppelkinn, all das sprach von einem glücklichen Temperament. Die Marquise bemerkte zunächst nur diese Hauptzüge; aber beim ersten Wort, das der Priester sprach, fiel ihr auf, wie sanft diese Stimme war; sie sah ihn aufmerksamer an und fand unter seinen halbergrauten Brauen Augen, die das Weinen kannten, und nun sah sie, daß die Wangenlinien im Profil seinem Kopf einen erhabenen Ausdruck des Schmerzes gaben: sie entdeckte in diesem Pfarrer einen Menschen.
»Madame, die Reichen gehören uns nur, wenn sie leiden; und die Leiden einer verheirateten Frau, die jung, schön und reich ist, die weder Kinder noch Eltern verloren hat, lassen sich erraten; sie sind durch Verletzungen entstanden, deren Schmerz nur die Religion lindern kann. Ihre Seele ist in Gefahr, Madame la Marquise. Ich spreche Ihnen jetzt nicht von unserm künftigen Leben. Nein, ich bin nicht im Beichtstuhl. Aber gehört es nicht zu meiner Pflicht, Sie über die Zukunft Ihrer gesellschaftlichen Stellung aufzuklären? Sie werden also einem alten Mann die Zudringlichkeit verzeihen; es handelt sich um Ihr Glück.« – »Das Glück, Monsieur le Cure, ist nicht mehr für mich. Ich werde Ihnen bald, wie Sie sagen, gehören, aber für immer.« – »Nein, Madame, Sie werden an dem Schmerz, der Sie niederdrückt und der aus Ihren Zügen spricht, nicht sterben. Wenn Sie daran hätten sterben sollen, wären Sie nicht in Saint-Lange. Wir gehen weniger an einem gewissen Kummer als an enttäuschten Hoffnungen zugrunde. Ich habe unerträglichere, furchtbarere Schmerzen gekannt, die nicht zum Tode geführt haben.«
Die Marquise machte eine Bewegung des Zweifels.
»Madame, ich kenne einen Mann, dessen Unglück so groß war, daß Ihre Qualen Ihnen im Vergleich mit seinen gering scheinen müßten...«
Mochte nun ihre lange Einsamkeit anfangen auf ihr zu lasten, mochte ihr die Aussicht Anteilnahme einflößen, in ein freundliches Herz ihre schmerzlichen Stimmungen ausschütten zu können, kurz, sie sah den Geistlichen mit einem nicht mißzuverstehenden fragenden Blick an.
»Madame«, fuhr der Priester fort, »der Mann, von dem ich spreche, war ein Vater, dem von einer früher zahlreichen Familie nur drei Kinder blieben. Er hatte hintereinander seine Eltern, dann eine Tochter und seine Frau, die er beide sehr liebte, verloren. Er blieb allein irgendwo in der Provinz auf einem kleinen Anwesen, wo er lange Zeit glücklich gewesen war. Seine drei Söhne waren bei der Armee, und jeder von ihnen hatte einen seinen Dienstjahren entsprechenden Rang. In den Hundert Tagen ging der älteste zur Garde über und wurde Oberst; der zweite war Bataillonschef bei der Artillerie und der jüngste Eskadronschef bei den Dragonern. Madame, diese drei Kinder liebten ihren Vater ebenso innig, wie sie von ihm geliebt wurden. Wenn Sie die Unbekümmertheit der
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