Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
heißt, dessen Umgebung es weder an Größe noch an Majestät fehlt. Da sind prächtige Ulmenalleen, Gräben, lange Wälle, ausgedehnte Gärten und die stattlichen Herrenhäuser, die nur dank der Steuererpressung, den Pachtgeldern, den behördlich genehmigten Erpressungen oder den großen aristokratischen Vermögen erbaut werden konnten, die heutzutage vom Hammer des Code civil zerschlagen worden sind. Wenn ein Künstler oder irgendein Träumer sich auf die Wege mit den tiefen Räderspuren oder die Äcker mit dem schweren Lehmboden, die den Zugang zu diesem Herrschaftssitz zu verteidigen scheinen, verirrte, dann fragt er sich, welche Laune wohl dieses romantische Schloß in diese Weizensteppe, in diese Wüste aus Kreide, Mergel und Sand verschlagen hat, wo der Frohsinn stirbt und die Traurigkeit unfehlbar geboren wird, wo die Seele mehr und mehr von einer lautlosen Einsamkeit, einem eintönigen Horizont und düsteren Schönheiten gepeinigt werden muß, die freilich Leiden, die keinen Trost verlangen, willkommen sein müssen.
Eine junge Frau, die in Paris durch ihre Anmut, ihre Schönheit, ihren Geist berühmt war und deren gesellschaftliche Stellung, deren Vermögen dieser Berühmtheit entsprachen, bezog zum großen Erstaunen des kleinen Dorfes, das etwa eine Meile von Saint-Lange entfernt lag, gegen Ende des Jahres 1821 das Schloß. Die Pächter und Bauern hatten seit Menschengedenken keine Herrschaft mehr im Schloß gesehen. Obgleich der Besitz ansehnliche Erträge brachte, war er seit langem einem Verwalter anvertraut und in der Obhut ehemaliger Diener. So erregte die Reise der Marquise eine gewisse Aufregung in der Gegend. Mehrere Personen standen gruppenweise am Ende des Dorfes vor einem elenden Wirtshaus, das an der Kreuzung der Straßen von Nemours und Moret lag, um die Kalesche vorbeifahren zu sehen. Sie fuhr ziemlich langsam, denn die Marquise hatte von Paris aus ihre eigenen Pferde benutzt. Auf dem Vordersitz des Wagens hielt die Zofe ein kleines Mädchen, das eher einen verträumten als einen heitern Eindruck machte. Die Mutter lag ausgestreckt im Fond und sah aus wie eine Todkranke, die von den Ärzten aufs Land geschickt wird. Der niedergeschlagene Ausdruck der zarten jungen Frau befriedigte die Dorfpolitiker sehr wenig, die bei der Kunde von ihrer Ankunft in Saint-Lange gehofft hatten, es werde nun in der Gemeinde etwas Abwechslung geben. Doch es war ersichtlich, daß jede Art von Bewegung offenbar dieser in ihren Schmerz versunkenen Frau widerwärtig war.
Der Allerschlauste von Saint-Lange erklärte am Abend im Honoratiorenzimmer des Wirtshauses, der traurige Gesichtsausdruck der Marquise lasse darauf schließen, daß sie ruiniert sein müsse. Während der Abwesenheit des Marquis, von dem die Zeitungen berichteten, er soll den Duc d'Angoulême nach Spanien begleiten, wollte sie jedenfalls in Saint-Lange die nötigen Summen zusammenbringen, um die infolge verfehlter Börsenspekulationen entstandenen Fehlbeträge zu begleichen. Der Marquis wäre einer der wildesten Spieler. Vielleicht würde der Besitz in Parzellen verkauft. Dabei könnte man einen guten Wurf tun. Es sollte nur jeder seine Taler zählen, sie aus dem Versteck holen und an all seine Mittel denken, um nicht leer auszugehen, wenn Saint-Lange ausgeschlachtet würde. Diese Aussicht schien so vielversprechend, daß jeder dieser ehrenwerten Männer es kaum abwarten konnte, zu erfahren, ob sie begründet wäre; jeder machte sich an die Leute im Schloß heran, um die Wahrheit herauszubekommen; aber keiner konnte Auskunft über das Unglück geben, das ihre Herrin im Anfang des Winters in ihr altes Schloß in Saint-Lange führte, während sie andere Besitzungen hatte, die durch ihre heitere Lage und die Schönheit ihrer Gärten berühmt waren. Der Bürgermeister ging aufs Schloß, um der Gnädigsten seine Aufwartung zu machen, aber er wurde nicht empfangen. Nach ihm versuchte es der Verwalter, ebenfalls ohne Erfolg.
Die Marquise verließ ihr Schlafzimmer nur, um es aufräumen zu lassen, und hielt sich dann in einem kleinen Salon nebenan auf, wo sie speiste, wenn man ›speisen‹ nennen darf, daß sie sich an einen Tisch setzte, die Gerichte, die darauf standen, mit Widerwillen ansah, und nur das wenige zu sich nahm, das nötig war, damit sie nicht verhungerte. Dann begab sie sich sofort wieder in den altertümlichen Lehnstuhl, in dem sie vom Morgen an an dem einzigen Fenster, von dem das Zimmer Licht empfing, saß. Sie sah ihre Tochter nur
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