Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
verbannte die Wärme und den Überschwang, die den jungen Leuten natürlich sind, in die Tiefe seiner Seele, die von Natur aus edel war. Er bemühte sich, einen kalten Rechner aus sich zu machen: in Manieren, liebenswürdige Formen, Verführungskünste zu verwandeln, was ihm die Natur an seelischen Schätzen verliehen hatte; so übte er sich in der eigentlichen Aufgabe des Ehrgeizigen, in der tristen Rolle, die dem Zwecke dient, eine glänzende Karriere zu machen. Er warf einen letzten, raschen Blick in die Salons, in denen man tanzte. Offenbar wollte er, ehe er den Ball verließ, einen Gesamteindruck mitnehmen, wie kein Zuschauer seine Loge in der Großen Oper verläßt, ohne das Schlußbild anzusehen. Aus einer begreiflichen Laune betrachtete Monsieur de Vandenesse das echt französische Treiben, den Glanz und die lachenden Gesichter dieses Pariser Festes und stellte sie in Gedanken neben die neuen Gesichter, die malerischen Szenen, die ihn in Neapel erwarteten; dort wollte er, ehe er sich auf seinen Posten begab, ein paar Tage zubringen. Er schien das so verschiedenartige und doch so wohlbekannte Frankreich mit einem Lande vergleichen zu wollen, dessen Sitten und Landschaften ihm nur aus widerspruchsvollen Berichten oder aus meistens schlecht geschriebenen Büchern bekannt waren. Etliche poetische, inzwischen jedoch ziemlich allgemein gewordene Gedanken gingen ihm durch den Kopf; sie gaben, vielleicht unbewußt, Antwort auf die geheimen Wünsche seines Herzens, das eher anspruchsvoll als abgestumpft, eher unausgefüllt als verbraucht war.
›Da sind nun‹, sagte er sich, ›die elegantesten, reichsten und vornehmsten Frauen von Paris. Hier sind die Tagesberühmtheiten, die Helden des politischen Geschehens, die Repräsentanten der Aristokratie und der Literatur; dort die Künstler und die Männer von Macht und Einfluß. Und doch sehe ich nichts als kleine Intrigen, totgeborene Liebe, nichtssagendes Lächeln, grundlosen Hochmut, glutlose Blicke, viel Geist, der ziellos verschwendet wird. All diese weißen und rosigen Gesichter suchen weniger die wirkliche Freude als platte Zerstreuung. Kein wahres Gefühl. Wollt ihr nur gutgesteckte Federn, duftigen Tüll, hübsche Toiletten, zierliche Frauen sehen; ist das Leben für euch nur eitel Oberfläche, die ihr streift, so ist das hier eure Welt. Begnügt euch mit nichtigen Phrasen, entzückenden Grimassen und verlangt kein Herz in der Brust. Mich aber ekelt vor diesen durchsichtigen Machenschaften, die mit der Hochzeit, mit einer Unterpräfektur oder einem fetten Posten oder, wenn es sich um die Liebe handelt, mit geheimen Übereinkünften enden; so sehr schämt man sich, den Anschein eines echten Empfindens zu zeigen. Ich sehe nicht ein einziges wahres Gesicht, dessen beredte Züge von einer Seele künden, die sich einer Idee und einem quälenden Gewissen in gleicher Weise hingeben kann. Kummer und Leid verbergen sich hier schamhaft unter Tändelei. Ich sehe keine einzige von den Frauen, mit denen ich kämpfen möchte und die einen in einen Abgrund reißen. Wo ist in Paris noch Willenskraft zu finden? Ein Dolch ist hier ein Kuriosum, das man an einen goldenen Nagel hängt oder in ein hübsches Futteral steckt. Weiber, Ideen, Empfindungen, alles gleicht einander. Es gibt hier keine Leidenschaften mehr, weil die Persönlichkeiten verschwunden sind. Rang, Geist, Vermögen, alles ist gleichgemacht worden; wir haben alle den schwarzen Rock angezogen, als wollten wir um das gestorbene Frankreich Trauer tragen. Wir lieben unsersgleichen nicht. Zwischen zwei Liebenden müssen Unterschiede getilgt, Klüfte ausgefüllt werden. Dieser Zauber der Liebe ist anno 1789 zugrunde gegangen! Unsere Langeweile, unsere faden Sitten sind das Ergebnis des politischen Systems. In Italien hat wenigstens alles noch grelle Farben. Dort sind die Frauen noch Raubtiere, gefährliche Sirenen ohne Vernunft; ihre ganze Logik besteht in ihrem Geschmack, ihren Gelüsten, und man muß vor ihnen auf der Hut sein wie vor Tigern...‹
Madame Firmiani unterbrach diesen Monolog, dessen tausend einander widersprechende, unfertige, wirre Einfälle nicht wiederzugeben sind. Der ganze Wert der Träumerei liegt in ihrer Unbestimmtheit; ist sie nicht eine Art geistigen Nebels?
»Ich will Sie«, sagte sie und legte ihm die Hand auf den Arm, »einer Frau vorstellen, die nach dem, was sie von Ihnen gehört hat, den lebhaftesten Wunsch hat, Sie kennenzulernen.«
Sie führte ihn in einen anstoßenden Salon und wies
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