Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
gestorben. Ich glaubte, ich hätte das ganze Fläschchen ausgetrunken; aber ich hatte die Hälfte darin gelassen.« – »Sie sind verloren, Frau Marquise«, sagte der Pfarrer ernst und mit tränenerstickter Stimme; »Sie werden in die Welt zurückkehren und werden die Welt betrügen. Sie werden eine Entschädigung für Ihre Leiden haben wollen und werden etwas suchen und etwas finden, was Sie dafür ansehen; und eines Tages werden Sie für Ihre Lüste zu büßen haben ...« – »Ich«, rief sie, »ich sollte dem ersten besten Schelm, der die Posse der Verliebtheit spielen kann, die letzten, kostbarsten Schätze meines Herzens überliefern und mein Leben für einen Augenblick zweifelhafter Lust zugrunde richten? Nein! Meine Seele wird von einer reinen Flamme verzehrt werden. Monsieur, alle Männer haben die Sinne ihres Geschlechts; aber einer, der eine Seele hat und so allen Forderungen unserer Natur genugtut, deren sanfte Harmonie sich nur unter dem Druck der Gefühle aufschwingt, so einer tritt nicht zweimal in unser Dasein. Meine Zukunft ist furchtbar, ich weiß es: die Frau ist nichts ohne Liebe; die Schönheit ist nichts ohne Lust; aber würde nicht die Gesellschaft mein Glück verdammen, wenn es noch einmal zu mir käme? Ich schulde meiner Tochter eine ehrbare Mutter. Oh, ich bin in einem Teufelskreis, und nie kann ich ohne Schmach aus ihm erlöst werden. Die Pflichten gegen die Familie, für deren Erfüllung es keinen Lohn gibt, werden mich langweilen; ich werde das Leben verfluchen; aber meine Tochter soll wenigstens dem Anschein nach eine Mutter haben. Ich werde ihr Schätze an Tugend hinterlassen für die Schätze der Mutterliebe, um die ich sie bringen muß. Ich habe nicht einmal den Wunsch zu leben, um nach Art der Mütter an dem Glück des Kindes Freude zu haben. Ich glaube nicht ans Glück. Was wird Hélènes Los sein? Ohne Zweifel dasselbe wie meins. Was können die Mütter tun, um sicher zu sein, daß der Mann, dem ihre Töchter sich preisgeben, der Gatte ihres Herzens sein wird? Ihr schmäht arme Geschöpfe, die sich für ein paar Taler an einen Mann, den sie auf der Straße treffen, verkaufen: diese flüchtigen Paarungen werden vom Hunger und der Not entschuldigt; aber die Gesellschaft duldet und ermutigt die in ganz anderer Art gräßliche Verbindung eines jungen unschuldigen Mädchens mit einem Mann, den sie noch keine drei Monate gesehen hat; es ist auf Zeit seines Lebens verkauft. Wahrlich, der Preis ist hoch! Wenn ihr Männer, die ihr einer Frau keinerlei Entschädigung für ihr Unglück gewährt, sie wenigstens ehrtet! Aber nein, die Gesellschaft verleumdet die tugendhaftesten unter uns! Das sind die zwei Seiten unseres Schicksals: öffentliche Prostitution und Schande auf der einen, geheime Prostitution und Unglück auf der andern Seite. Und die armen Mädchen ohne Mitgift verderben und sterben; für sie gibt es kein Mitleid. Schönheit und Tugend haben in eurem Menschenbasar keinen Wert, und diese Lasterhöhle des Egoismus nennt ihr Gesellschaft! Enterbt doch die Frauen! Dann würdet ihr doch wenigstens ein Naturgesetz bei der Wahl eurer Gefährtinnen erfüllen und würdet eure Gattinnen nach der Stimme eures Herzens wählen.« – »Madame, Ihre Reden beweisen mir, daß der Geist der Familie so wenig in Ihnen lebt wie der Geist der Religion. Daher werden Sie auch zwischen dem Egoismus der Gesellschaft, der Sie verwundet, und dem Egoismus des Individuums, der Ihnen Lust und Genuß vorspiegelt, nicht schwanken ...« – »Gibt es denn eine Familie, Monsieur? Ich leugne die Familie in einer Gesellschaft, die beim Tode des Vaters oder der Mutter den Besitz teilt und jeden seiner Wege schickt. Die Familie ist eine vorübergehende und zufällige Vereinigung, die der Tod ohne weiteres auflöst. Unsere Gesetze haben die Besitzungen, das Erbeigentum, den Fortbestand der Ideale und der Traditionen zunichte gemacht. Ich sehe nur Trümmerhaufen um mich.« – »Madame, Sie werden erst zu Gott zurückkehren, wenn seine Hand schwer auf Ihnen ruhen wird, und ich wünsche, Sie möchten Zeit genug haben, Ihren Frieden mit ihm zu machen. Sie suchen darin Ihren Trost, daß Sie die Augen zur Erde richten, anstatt sie zum Himmel emporzuheben. Die weltliche Philosophiererei und das persönliche Interesse haben von Ihrem Herzen Besitz ergriffen; Sie sind taub für die Stimme der Religion, wie es die Kinder dieses Jahrhunderts sind, dem der Glaube fehlt! Die Freuden der Welt können nur Leiden erzeugen. Sie
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