Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
werden Ihre Schmerzen nur vertauschen, das ist das einzige, wozu Sie es bringen.« – »Ich werde Ihre Prophezeiungen Lügen strafen«, erwiderte sie mit bitterem Lächeln, »ich werde dem treu bleiben, der für mich gestorben ist.« – »Der Schmerz«, antwortete er, »ist nur in den Seelen, die der Religion zugänglich waren, lebensfähig.«
Er senkte respektvoll die Augen, um die Zweifel nicht sehen zu lassen, die vielleicht in seinem Blick lagen. Die Energie der Klagen, welche die Marquise vorbrachte, hatte ihn traurig gestimmt. Er kannte das Ich des Menschen, wie es sich in tausend Formen versteckt, und hatte keine Hoffnung, dieses Herz zu besänftigen, das das Unglück ausgedörrt hatte, anstatt es zu erweichen, dieses Herz, in dem das Samenkorn des himmlischen Sämanns nicht aufkeimen konnte, weil seine sanfte Stimme von dem lauten, fürchterlichen Schrei des Egoismus übertönt wurde. Trotzdem war er hartnäckig wie ein Apostel und kam mehrere Male wieder; er wollte die Hoffnung lange nicht aufgeben, diese edle und stolze Seele zu Gott zurückzuführen; aber als er eines Tages merkte, daß die Marquise nur gerne mit ihm plauderte, weil es ihr wohltat, von dem zu reden, der nicht mehr unter den Lebenden weilte, sank sein Mut. Sein heiliges Amt wollte er nicht damit herabwürdigen, daß er sich zum Diener einer Leidenschaft machte; er stellte diese Gespräche ein und beschränkte sich nach und nach auf die üblichen Redensarten und Gemeinplätze der Konversation. So kam der Frühling heran. Die Marquise fand Beschäftigungen, die sie von ihrem tiefen Kummer ablenkten; zur Zerstreuung gab sie sich mit ihrer Besitzung ab, auf der sie diese und jene Arbeiten anordnete. Im Oktober verließ sie dann ihr altes Schloß Saint-Lange; sie war inzwischen in dem untätigen Bebrüten eines Kummers, der zuerst heftig wie ein Wurfgeschoß gewesen war, das mit starker Hand fortgeschleudert wird, schließlich aber in Melancholie geendet hatte, wie ein Diskus nach immer schwächer werdenden Schwingungen endlich zum Stehen kommt, frisch und strahlend geworden. Die Melancholie setzt sich aus einer Reihe ähnlicher seelischer Schwingungen zusammen, deren erste an die Verzweiflung, deren letzte aber an die Lust grenzt: in der Jugend ist sie die Morgendämmerung, im Alter das Abendrot.
Als ihre Equipage durchs Dorf fuhr, wurde die Marquise von dem Pfarrer gegrüßt, der gerade aus der Kirche ms Pfarrhaus ging; sie erwiderte den Gruß, hob aber die Augen nicht und wandte den Kopf, um ihn nicht noch einmal zu sehen. Der Priester hatte gegen diese arme Artemisia von Ephesus nur allzu recht behalten.
3. Mit dreißig Jahren
Ein hoffnungsvoller junger Mann, der zu einer der historischen Familien gehörte, deren Namen immer, entgegenstehenden Gesetzen zum Trotz, mit Frankreichs Ruhm innig verknüpft sein werden, befand sich auf dem Ball bei Madame Firmiani. Die Dame hatte ihm ein paar Empfehlungsbriefe an zwei oder drei Freundinnen in Neapel gegeben. Charles de Vandenesse – so hieß der junge Mann – wollte ihr dafür danken und sich verabschieden. Vandenesse, der sich schon mehrerer Aufgaben geschickt entledigt hatte, war unlängst Attaché eines unserer zum Kongreß nach Laibach entsandten Bevollmächtigten geworden und wollte seine Reise benutzen, um Italien kennenzulernen. Dieses Fest war also ein Abschiednehmen von den Genüssen von Paris, von diesem stürmischen Leben, diesem Wirbel von Gedanken und Vergnügungen, den man so oft schmäht und dem man sich doch so gern hingibt. Charles de Vandenesse war seit drei Jahren daran gewöhnt, je nach den Wechselfällen seiner diplomatischen Laufbahn, die Hauptstädte Europas zu begrüßen und wieder zu verlassen; er gab indessen in Paris nicht viel auf, was zurückzulassen er hätte bedauern müssen. Die Frauen machten auf ihn fast keinen Eindruck mehr; es mag dahingestellt bleiben, ob er der Meinung war, eine wahre Leidenschaft nehme im Leben eines Politikers zuviel Platz ein, oder ob die Armseligkeiten der oberflächlichen Galanterie ihn für eine starke Seele zu eitel dünkten. Wir geben alle vor, mit einer starken Seele begabt zu sein. In Frankreich will kein Mensch, sei er noch so mittelmäßig, lediglich für geistreich gelten. So hatte Charles sich, wiewohl er noch jung war – er zählte kaum dreißig Jahre –, schon an die philosophische Art gewöhnt, dort Ideen, Resultate, Mittel festzustellen, wo die Männer seines Alters Gefühle, Freuden und Illusionen sehen. Er
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