Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
von Zeit zu Zeit leise einige aus dem Herzen kommende Worte an ihn; denn ihr Gefährte blieb glückstrahlend stehen und sah sie mit seinen blauen Augen feurig und mit abgöttischer Verehrung an. Ihre Stimmen im Verein mit der des Kindes hatten einen wundersam schmeichlerischen Reiz. Sie waren alle drei entzückend. Diese liebliche Szene in der himmlischen Landschaft breitete eine unglaublich anmutige Stimmung um sich. Eine schöne, strahlende, lachende Frau, ein Kind der Liebe, ein Mann, hinreißend in seiner Jugend, ein klarer Himmel, alle Harmonien der Natur vereinigten sich, um die Seele zu erquicken. Ich ertappte mich bei einem Lächeln, als wäre dieses Glück das meine. Der schöne junge Mann hörte neun Uhr schlagen. Er küßte seine Begleiterin, die nun ernst und fast traurig geworden war, zärtlich und bestieg seinen Tilbury, der, von einem alten Diener gelenkt, langsam vorfuhr. Der kleine Liebling plapperte immer weiter, während ihm der junge Mann die letzten Küsse gab. Als dieser dann in seinen Tilbury gestiegen war, die unbeweglich dastehende Frau dem rasselnden Wagen nachhorchte und der Staubwolke, die dieser in der grünen Allee des Boulevard aufwirbelte, mit den Blicken folgte, lief Charles zu seiner Schwester, die bei der Brücke stand, und ich hörte, wie er mit silberheller Stimme zu ihr sagte: »Warum hast du denn meinem guten Freund nicht adieu gesagt?«
Hélène warf ihrem Bruder, der auf der Böschung stand, den fürchterlichsten Blick zu, der in den Augen eines Kindes je aufgeflammt ist, und stieß ihn wütend von sich. Charles glitt auf dem abschüssigen Ufer aus, prallte auf Wurzeln, die ihn hart auf die scharfen Steine der Mauer schleuderten, er schlug sich daran die Stirn auf und stürzte blutend in das schlammige Wasser des Baches. Unter seinem hübschen blonden Köpfchen teilte sich die Welle in tausend braune Wasserspritzer. Ich hörte die gellenden Schreie des armen Kleinen; aber bald verloren sich die Rufe und erstickten im Schlamm, wo er mit einem dumpfen Ton, wie wenn ein Stein aufklatscht, verschwand. Das Kind war schneller als ein Blitz ins Wasser gefallen. Ich sprang rasch auf und eilte hinab. Hélène war außer sich und schrie durchdringend: »Mama! Mama!«
Die Mutter war zugleich mit mir da. Sie war mit der Schnelligkeit eines Vogels herbeigeflogen. Aber weder die Augen der Mutter noch meine konnten genau die Stelle erkennen, wo das Kind versunken war. Das dunkle Wasser war weithin aufgerührt worden. Das Bett der Bièvre hat an dieser Stelle zehn Fuß tiefen Schlamm. Das Kind mußte darin zugrunde gehen, es war unmöglich, ihm zu helfen. Zu dieser Stunde, es war ein Sonntag, ruhte alles. Auf der Bièvre gibt es keine Boote und keine Fischer. Ich sah keine Stange, um in dem stinkenden Wasser zu wühlen, und ringsum keinen Menschen. Warum hätte ich von diesem unheimlichen Vorfall reden oder das Geheimnis dieses Unglücksfalls aufdecken sollen? Hélène hatte vielleicht ihren Vater gerächt. Ihre Eifersucht war gewiß das Schwert Gottes. Aber ich schauderte, wenn ich die Mutter ansah. Welch furchtbarem Verhör würde ihr Gatte, ihr ewiger Richter sie unterziehen? Sie hatte einen unbestechlichen Zeugen bei sich. Die Kindheit kann nichts hinter ihrer Stirn verbergen, ihre Haut ist durchsichtig; und die Lüge ist in ihr wie eine Fackel, die alles, selbst den Blick, in Flammen setzt. Die unglückliche Frau dachte noch nicht an das Strafgericht, das zu Hause auf sie wartete. Sie starrte in die Bièvre.
Solch ein Ereignis mußte im Leben einer Frau furchtbare Wirkungen zeitigen. Hier sei eine der schrecklichen Episoden aufgezeichnet, die von Zeit zu Zeit, wie ein Echo dieses tragischen Vorfalls, Julies Liebesglück störten.
Zwei oder drei Jahre später befand sich eines Abends nach dem Essen beim Marquis de Vandenesse, der damals um seinen Vater trauerte und eine Erbschaft zu regeln hatte, ein Notar. Dieser Notar war nicht der kleine Notar, den man von Sterne her kennt, sondern ein vierschrötiger, dicker Notar von Paris, einer der Ehrenmänner, die ihre Dummheiten mit Gemessenheit begehen, den Fuß schwer und fest auf eine unbekannte Wunde setzen und dann verwundert fragen, warum man sich beklagt. Wenn sie zufällig das Warum ihrer mörderischen Torheit erfahren, sagen sie: »Meiner Treu, ich hatte keine Ahnung!« Kurz, es war ein Notar, der in allen Ehren ein Schafskopf war und nie im Leben über seine Akten hinausgeblickt hatte. Der Diplomat hatte Madame d'Aiglemont zu
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