Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Besuch. Der General hatte sich, noch ehe das Diner zu Ende war, höflich verabschiedet, um mit seinen beiden Kindern ins Theater zu gehen, auf die Boulevards, ins Ambigu-Comique oder in die Gaieté. Die Melodramen sind zwar übertrieben gefühlsselig, aber in Paris ist man der Meinung, sie eigneten sich für Kinder und seien unschädlich, weil in ihnen immer die Unschuld siegt. Der Vater war also gegangen, ohne das Dessert abzuwarten; seine Tochter und sein Sohn hatten ihn gar zu sehr geplagt, um noch vor Beginn ins Theater zu kommen.
Der Notar, der unerschütterliche Notar, der nicht fähig war, sich zu fragen, warum wohl Madame d'Aiglemont ihre Kinder und ihren Mann ins Theater schickte, ohne mit ihnen zu gehen, saß also seit dem Diner wie auf seinen Stuhl festgeschraubt. Eine Debatte hatte das Dessert in die Länge gezogen, und die Diener hatten erst spät den Kaffee serviert. Diese Zwischenfälle, die eine ersichtlich kostbare Zeit raubten, hatten der schönen Frau Zeichen der Ungeduld entlockt, bei denen man an ein edles Pferd denken konnte, das vor dem Rennen ungebärdig stampft. Der Notar, der sich auf Frauen so wenig wie auf Pferde verstand, meinte lediglich, die Marquise wäre eine lebhafte, ausgelassene Frau. Er war entzückt, in Gesellschaft einer vornehmen Dame, die eine große Rolle in der Gesellschaft spielte, und eines berühmten Politikers zu sein, und bemühte sich, seinen Geist zu zeigen; das erzwungene Lächeln der Marquise, der er beträchtlich auf die Nerven fiel, nahm er als Zustimmung und fuhr unbeirrt in seiner Rede fort. Schon hatte der Herr des Hauses, dem es geradeso ging wie seiner Gefährtin, sich erlaubt, mehrere Male schweigend zu verharren, wo der Notar ein anerkennendes Beipflichten erwartet hatte; aber während dieses vielsagenden Stillschweigens sah der verfluchte Kerl ins Feuer und sann auf Anekdoten. Dann nahm der Diplomat die Zuflucht zu seiner Taschenuhr. Schließlich hatte die schöne Frau ihren Hut aufgesetzt, um fortzugehen, und war nicht gegangen. Der Notar sah und hörte nichts; er war entzückt von sich und zweifelte nicht daran, daß er die Marquise dermaßen interessierte, daß sie das Fortgehen vergaß.
›Diese Dame wird ganz sicher meine Klientin‹, sagte er sich.
Die Marquise stand, zog ihre Handschuhe an, spielte nervös mit den Fingern und sah abwechselnd auf den Marquis de Vandenesse, der ihre Ungeduld teilte, und auf den Notar, der jeden geistreichen Einfall breit auswalzte. Bei jeder Pause, die dieser würdige Mann einlegte, atmete das schöne Paar auf und nickte sich verheißungsvoll zu: ›Endlich geht er!‹ Aber er dachte nicht daran. Er war wie ein Alpdruck, der schließlich die leidenschaftlichen zwei Menschen, auf die er wirkte wie die Schlange auf die Vögel, aufs äußerste reizte und sie zu einer Unhöflichkeit zwang. Mitten in der schönsten Erzählung von den schändlichen Wegen, auf denen du Tillet, ein Geschäftsmann, der damals in Gunst stand, zu seinem Vermögen gekommen war, während sich der geistreiche Notar in den kleinsten Einzelheiten dieser Schmutzereien erging, hörte der Diplomat auf seiner Standuhr neun schlagen; er sah, daß sein Notar ganz entschieden ein alberner Tropf war, den man kurzerhand verabschieden mußte, und unterbrach ihn entschlossen mit einer Handbewegung.
»Wünschen Sie die Feuerzange, Monsieur le Marquis?«, fragte der Notar und reichte sie seinem Klienten. »Nein, aber ich muß Sie jetzt verabschieden. Madame möchte ihre Kinder abholen, und ich werde die Ehre haben, sie zu begleiten.« – »Schon neun Uhr! Die Zeit vergeht doch in angenehmer Gesellschaft wie im Nu«, meinte der Notar, der seit einer Stunde die Unterhaltung allein bestritten hatte.
Er suchte seinen Hut, dann pflanzte er sich vor dem Kamin auf, unterdrückte mit Mühe ein Aufstoßen und sagte, ohne die niederschmetternden Blicke der Marquise zu beachten, zu seinem Klienten: »Fassen wir also zusammen, Monsieur le Marquis. Die Geschäfte gehen allem andern vor. Morgen werden wir also, Monsieur, Ihrem Bruder eine Ladung zustellen, um ihn in Verzug zu setzen; wir beginnen mit der Vermögensaufnahme, und dann möchte ich doch ...«
Der Notar hatte die Absichten seines Klienten so wenig verstanden, daß er den Instruktionen, die der Marquis ihm gegeben hatte, geradewegs zuwiderhandeln wollte. Diese Angelegenheit war zu heikel, Vandenesse mußte also die Auffassung des tölpelhaften Notars richtigstellen, und es ergab sich daraus eine Aussprache,
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