Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
die eine gewisse Zeit in Anspruch nahm.
»Hören Sie«, sagte der Diplomat endlich, nachdem ihm die junge Frau ein Zeichen gemacht hatte, »Sie gehen mir auf die Nerven, kommen Sie morgen um neun Uhr mit meinem Anwalt.«
»Aber ich muß Sie gehorsamst darauf hinweisen, Monsieur le Marquis, daß wir nicht sicher sind, Monsieur Desroches morgen zu treffen, und wenn die Verzugsetzung nicht bis morgen mittag zugestellt ist, läuft die Frist ab und ...«
In diesem Augenblick fuhr ein Wagen in den Hof. Als die arme Frau ihn hörte, wandte sie sich rasch ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen gestiegen waren. Der Marquis klingelte, um sagen zu lassen, er sei nicht zu Hause; aber der General, der unerwarteterweise aus der Gaieté zurückgekehrt war, kam dem Kammerdiener zuvor. Er führte an der einen Hand seine Tochter, deren Augen gerötet waren, und an der andern seinen Knaben, der ganz mürrisch und ärgerlich aussah.
»Was ist denn geschehen?« fragte die Frau ihren Gatten. »Wir werden später davon sprechen«, versetzte der General. Er ging in ein benachbartes Boudoir, dessen Tür geöffnet war und in dem er Zeitungen liegen sah.
Die Marquise, deren Geduld nun am Ende war, warf sich verzweifelt auf ein Sofa.
Der Notar hielt sich für verpflichtet, zu den Kindern freundlich zu sein, er nahm einen onkelhaften Ton an und fragte den Jungen: »Nun, junger Herr, was gab man im Theater?« – »›Das Tal des Wildbachs‹«, antwortete Gustave brummig. »Meiner Treu«, meinte der Notar, »die Schriftsteller sind heutzutage halb verrückt! ›Das Tal des Wildbachs‹! Warum nicht ›Der Wildbach des Tals‹? Es ist möglich, daß ein Tal keinen Wildbach hat; so hätten also die Verfasser, wenn sie ›Der Wildbach des Tals‹ gesagt hätten, etwas Rundes, Klares, Bestimmtes, Sinnvolles ausgedrückt. Aber lassen wir das. Wie kann indessen ein Drama in einem Sturzbach und in einem Tale spielen? Sie werden dagegenhalten, daß heutzutage der Hauptreiz dieser Art Schaustücke in den Dekorationen liege, und dieser Titel verspricht ausnehmend prächtige. Haben Sie sich gut unterhalten?« Dabei setzte er sich behaglich neben das Kind.
In dem Augenblick, wo der Notar gefragt hatte, was für ein Drama in einem wilden Bach spielen könnte, hatte sich die Tochter der Marquise langsam umgedreht und unaufhaltsam zu weinen begonnen. Die Mutter war derart aufgebracht, daß sie die Bewegung ihrer Tochter nicht wahrnahm.
»O ja, ich habe mich gut unterhalten«, antwortete der Kleine. »Es kam ein kleiner hübscher Junge in dem Stück vor, der ganz allein auf der Welt war, weil sein Papa nicht sein Vater sein konnte. Und da wirft ihn, wie er oben auf der Brücke steht, die über den Wildbach führt, ein großer bärtiger Kerl, der ganz schwarz angezogen ist, ins Wasser. Da hat Hélène angefangen, zu weinen und zu heulen; alle Zuhörer haben über uns geschimpft, und mein Vater hat uns ganz schnell, ganz schnell weggeführt...«
Monsieur de Vandenesse und die Marquise waren beide wie vom Donner gerührt, wie von einem Schmerz ergriffen, der ihnen die Kraft, zu denken und zu handeln, nahm.
»Gustave, sei still!« rief der General; »ich habe dir verboten, von dem zu sprechen, was im Theater vorgefallen ist, und schon vergißt du meine Ermahnungen.« – »Euer Gnaden verzeihen«, meinte der Notar, »ich habe das Unrecht begangen, ihn zu fragen, aber ich wußte nicht, wie ernst...« – »Er durfte nicht antworten«, sagte der Vater und sah seinen Sohn böse an.
Die Ursache der plötzlichen Heimkehr der Kinder und ihres Vaters mußte jetzt dem Diplomaten und der Marquise bekannt sein. Die Mutter sah ihre Tochter an, erblickte sie in Tränen und stand auf, um zu ihr zu gehen; aber dann verschloß sich ihr Gesicht jäh, und es zeigte sich auf ihm eine durch nichts gemilderte Strenge.
»Es ist genug, Hélène«, sagte sie zu ihr, »geh ins Boudoir und trockne dir deine Tränen!« – »Was hat denn die arme Kleine getan?« fragte der Notar, der zugleich den Zorn der Mutter und die Tränen der Tochter besänftigen wollte; »sie ist so hübsch, daß sie das artigste Kind der Welt sein muß, und ich bin sicher, Madame, daß sie Ihnen nur Freude macht. Nicht wahr, meine Kleine?«
Hélène sah ihre Mutter zitternd an, trocknete ihre Tränen, versuchte eine ruhige Miene aufzusetzen und flüchtete ins Boudoir.
»Und gewiß, Madame«, fuhr der Notar fort, der sich nicht beirren ließ, »Sie sind gewiß eine so gute Mutter, daß
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