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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Sie Ihre Kinder alle gleich liebhaben. Dazu sind Sie viel zu tugendhaft, als daß Sie Ihre Kinder nicht ohne diese traurigen Bevorzugungen lieben, deren unheilvolle Wirkungen ganz besonders wir Notare kennenlernen. Die Gesellschaft läuft durch unsere Hände; wir sehen ihre Leidenschaften in ihrer häßlichsten Gestalt: dem Eigennutz. Da will eine Mutter die Kinder ihres Mannes zugunsten der Kinder, die sie ihnen vorzieht, enterben, während der Gatte hinwieder manchmal sein Vermögen dem Kinde zukommen lassen will, das den Haß der Mutter verdient hat. Und dann gibt es Kämpfe, Ängste, Akten, Gegenverschreibungen, fingierte Verkäufe, Fideikommisse; kurz, ein erbärmlicher Schmutz, mein Wort darauf, ganz erbärmlich! Dort bringen Väter ihr Leben damit zu, ihre Kinder zu enterben, indem sie ihren Ehefrauen das Vermögen stehlen ... Jawohl, stehlen, das ist das rechte Wort! Wir sprachen von Dramen: oh! ich versichere Sie, wenn wir das Geheimnis mancher Schenkungen ausplaudern dürften, unsere Schriftsteller könnten furchtbare bürgerliche Tragödien daraus machen. Ich weiß nicht, was die Frauen für eine Macht gebrauchen, um zu tun, was sie wollen; denn gegen alle Wahrscheinlichkeit und trotz ihrer Schwäche tragen sie immer den Sieg davon. Aber mir streuen sie keinen Sand in die Augen, mir nicht! Ich errate immer, warum ein Kind ihr besonderer Liebling ist, wenn man auch in der Gesellschaft von unerklärlichen Regungen spricht! Aber die Männer kommen nie dahinter, das muß man ihnen der Gerechtigkeit halber lassen. Sie mögen mir einwenden, es sei eine besondere Gunst, zu ...«
    Hélène, die mit ihrem Vater aus dem Boudoir wieder in den Salon gekommen war, hörte dem Notar aufmerksam zu und verstand seine Worte so gut, daß sie einen furchtsamen Blick auf ihre Mutter warf; sie fühlte mit dem ganzen Instinkt der Jugend voraus, daß dieser Vorfall die strenge Behandlung, der sie ausgesetzt war, verdoppeln würde. Die Marquise erblaßte; mit einem ängstlichen Wink machte sie Vandenesse auf ihren Gatten aufmerksam, der nachdenklich die Blumen des Teppichs studierte. Jetzt konnte sich der Diplomat trotz seiner guten Lebensart nicht länger zurückhalten und warf dem Notar einen vernichtenden Blick zu. »Kommen Sie mit mir!« sagte er zu ihm und schritt schnell dem Gemach zu, das vor dem Salon lag.
    Der Notar folgte ihm zitternd, ohne seinen Satz zu Ende zu bringen.
    »Monsieur«, sagte der Marquis de Vandenesse jetzt mit kaum verhaltener Wut zu ihm, nachdem er die Tür zum Salon, wo er die Gattin und den Gatten zurückließ, heftig geschlossen hatte, »seit dem Diner haben Sie hier nichts als Torheiten gemacht und Dummheiten gesagt. In Gottes Namen, gehen Sie! Sie wären imstande, das größte Unglück anzurichten. Wenn Sie ein tüchtiger Notar sind, dann bleiben Sie in Ihrem Bureau; aber wenn Sie zufällig in Gesellschaft kommen, dann versuchen Sie, etwas weniger täppisch zu sein...«
    Er kehrte in den Salon zurück und verließ den Notar, ohne sich von ihm zu verabschieden. Der Biedermann blieb ganz verdattert stehen; er war wie vor den Kopf geschlagen, er wußte nicht mehr, woran er war. Als sein Ohrensausen sich etwas gegeben hatte, glaubte er Stöhnen zu hören, im Salon war ein eiliges Kommen und Gehen, die Klingel wurde heftig gezogen. Er fürchtete sich davor, den Marquis de Vandenesse noch einmal zu sehen, und nahm die Beine in die Hand, um sich aus dem Staube zu machen und die Treppe hinunterzukommen; an der Tür aber stieß er mit den Dienern zusammen, die in den Salon eilten, um die Befehle ihres Herrn zu vernehmen.
    ›So sind die Herrschaften alle‹, sagte er schließlich für sich selbst, als er auf der Straße war und nach einer Droschke suchte, ›sie fordern einen zum Sprechen heraus, sie machen einem mit allerlei Komplimenten Mut; man glaubt sie gut zu unterhalten; nichts damit! Sie benehmen sich unverschämt, kehren uns gegenüber Distanz heraus und setzen einen sogar ganz ungeniert vor die Tür. Und dabei war ich sehr geistreich; ich habe nichts gesagt, was nicht vernünftig und geziemend war und Hand und Fuß hatte. Meiner Treu, er empfiehlt mir, ich soll nicht täppisch sein! Das braucht's bei mir nicht. Was, zum Teufel, bin ich nicht Notar und Mitglied der Notariatskammer? Ach was, das ist so eine Botschaftergrille; diesen Leuten ist nichts heilig. Morgen soll er mir erklären, wieso ich nichts als Torheiten gemacht und Dummheiten gesagt habe. Er soll mir Rede stehen, das heißt, er

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