Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
oder wie vom elektrischen Schlag beim Berühren einer Leidener Flasche zurück. »Mein Freund«, rief sie ihrem Manne zu, »das ist der Teufel! Er errät alles ...« Der General erhob sich, um an einer Klingelschnur zu ziehen. »Er stürzt Sie ins Verderben«, rief Hélène dem Mörder zu. Der Unbekannte lächelte. Er trat einen Schritt vor, griff nach dem Arm des Marquis und zwang ihn, einen Blick auszuhalten, der ihm die Fassung raubte und ihn wehrlos machte. »Ich werde Ihnen Ihre Gastfreundschaft vergelten«, sagte er, »und wir werden quitt sein. Ich erspare Ihnen den Wortbruch und liefere mich selbst aus. Was soll ich schließlich noch mit dem Leben anfangen?« – »Sie können bereuen!« antwortete Hélène mit einem Blick, in dem eine Hoffnung zu lesen war, wie sie nur in den Augen eines jungen Mädchens aufleuchtet. »Ich werde niemals bereuen!« sagte der Mörder mit klangvoller Stimme und hob stolz den Kopf. »Seine Hände sind blutbefleckt!« sagte der Vater zur Tochter. »Ich werde sie reinwaschen«, erwiderte sie. »Aber«, fiel der General ein, der es nicht wagte, auf den Unbekannten zu deuten, »weißt du denn überhaupt, ob er dich haben will?«
Der Unbekannte trat auf Hélène zu, deren keusche, in sich geschlossene Schönheit gleichsam von einem Innern Licht durchstrahlt wurde, dessen Widerschein die feinsten Züge und zartesten Linien ihres Gesichts hervorhob und verklärte. Er sah das reizende Geschöpf sanft und voller Glut an und sagte tiefbewegt: »Heißt es nicht, Sie um Ihrer selbst willen lieben und Ihrem Vater die zwei Stunden Leben, die er mir verkauft hat, vergelten, wenn ich jetzt Ihr Opfer nicht annehme?« – »So stoßen Sie mich also auch zurück!« rief Hélène mit herzzerreißendem Ton. »So lebt denn alle wohl, ich will sterben!« – »Was hat das zu bedeuten?« stießen Vater und Mutter gleichzeitig hervor.
Sie schwieg und schlug die Augen nieder, nachdem sie der Marquise einen vielsagenden Blick zugeworfen hatte. Seit dem Augenblick, da der General und seine Frau bestrebt waren, durch Wort und Tat das seltsame Recht zu bekämpfen, das der Fremde sich angemaßt hatte, indem er in ihrer Mitte blieb und sie unter dem Banne seines sinnverwirrenden Auges hielt, waren sie einer unerklärlichen Benommenheit verfallen, und ihr betäubter Verstand leistete ihnen schlechte Dienste, die übernatürliche Macht zurückzustoßen, der sie zu erliegen drohten. Die Luft schien ihnen schwer geworden, sie atmeten mühsam und vermochten nicht, den, der sie so bedrückte, anzuklagen, obwohl eine innere Stimme sie nicht im Zweifel darüber ließ, daß die magischen Kräfte dieses Mannes die Ursache ihrer Ohnmacht waren. Inmitten dieses seelischen Todeskampfes wurde es dem General klar, daß er seine ganze Kraft darauf verwenden müsse, auf die ins Wanken geratene Vernunft seiner Tochter einzuwirken; er faßte sie um die Taille und zog sie vom Mörder weg in eine Fensternische. »Mein geliebtes Kind«, sagte er zu ihr mit leiser Stimme, »wenn eine seltsame Liebe plötzlich in deinem Herzen Wurzel geschlagen hat, so haben dein unschuldvolles Leben, dein reines frommes Herz mir so viele Beweise deiner Charakterstärke erbracht, daß ich nicht glauben kann, daß du nicht die nötige Kraft aufbringst, um eine Regung des Wahnsinns zu bezwingen. Hinter deinem Betragen steckt also ein Geheimnis. Sieh, mein Herz ist voller Nachsicht, du kannst dich ihm vertrauen; wenn du es auch zerreißen solltest, so würde ich meinen Schmerzen doch Schweigen gebieten und dein Geständnis in mir verschließen. Sag, bist du eifersüchtig auf unsere Liebe für deine Brüder und dein Schwesterchen? Hast du einen Liebeskummer in deinem Herzen? Fühlst du dich hier unglücklich? Sprich, erkläre mir die Gründe, die dich treiben, deine Familie zu verlassen, ihr das Lieblichste zu rauben, von deiner Mutter, deinen Brüdern, deiner kleinen Schwester wegzugehen!« – »Lieber Vater«, entgegnete sie, »ich bin weder eifersüchtig noch in irgend jemand verliebt, nicht einmal in Ihren Freund, den Diplomaten Monsieur de Vandenesse.« Die Marquise erbleichte, und ihre Tochter, die sie beobachtete, hielt inne. »Werde ich nicht früher oder später unter dem Schutz eines Mannes leben müssen?« – »Das ist wahr.« – »Wissen wir jemals«, fuhr sie fort, »welcher Art der Mensch ist, mit dem wir unser Geschick verknüpfen? Ich glaube an diesen Mann.« – »Kind«, beschwor sie der General, »du denkst nicht an alle Leiden,
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