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Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)

Titel: Die Frau von dreißig Jahren (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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Welt mehr Antwort gab, durchbrach der General wie durch Zauber den Bann, unter dessen diabolischem Einfluß er so lange gestanden hatte. Eine Art Erleuchtung glitt über seine Züge. Er sah deutlich die Szene, die soeben stattgefunden hatte, und verfluchte seine Schwäche, die er nicht begriff. Eine Hitzewelle erfaßte vom Herzen aus seinen ganzen Körper; er wurde wieder er selbst, schrecklich, rachedürstend, und stieß einen fürchterlichen Schrei aus: »Zu Hilfe! Zu Hilfe!« Er lief zum Klingelzug, zog daran, als sollte er zerreißen, so daß ein wildes Läuten durchs Haus gellte. Alle seine Leute fuhren aus dem Schlaf. Immer noch schreiend, öffnete er die Fenster nach der Straße zu, rief nach Gendarmen, nahm seine Pistolen und schoß sie ab, um den Ritt der Polizisten, das Zusammenlaufen seiner Leute und Nachbarn zu beschleunigen. Die Hunde erkannten die Stimme ihres Herrn und bellten, die Pferde wieherten und stampften. Es war ein fürchterlicher Tumult in der stillen Nacht. Als der General die Treppe hinunterrannte, um seiner Tochter nachzulaufen, sah er von allen Seiten seine entsetzten Leute herbeikommen. »Meine Tochter ... Hélène ist geraubt worden. Lauft in den Garten! Bewacht die Straße! Öffnet der Gendarmerie! Greift den Mörder!« In einem Anfall von Raserei riß er die Kette entzwei, an der der große Wachhund lag. »Hélène! Hélène!« rief er ihm zu. Der Hund sprang in die Höhe wie ein Löwe, bellte wie rasend und stürzte sich mit solcher Schnelligkeit in den Garten, daß der General nicht folgen konnte. In diesem Augenblick erscholl der Galopp der Pferde auf der Straße, und der General beeilte sich, selbst zu öffnen. »Wachtmeister«, rief er, »schneiden Sie dem Mörder Monsieur de Maunys den Rückzug ab! Sie sind auf der Flucht durch meine Gärten. Schnell, umstellen Sie die Wege zur Pikardiehöhe. Ich will alle Felder, alle Parks und Häuser durchsuchen. – Ihr«, sagte er zu den Leuten, »überwacht die Straße und haltet den Weg vom Stadttor nach Versailles im Auge. Vorwärts alle!« Er griff nach dem Gewehr, das ihm sein Kammerdiener brachte, und rannte in die Gärten, indem er dem Hund nachrief: »Such!« Wildes Bellen antwortete ihm aus der Ferne. Er schlug die Richtung ein, woher das Hundegebell zu kommen schien.
    Um sieben Uhr morgens stellte man alle Nachforschungen der Gendarmerie, des Generals und der Nachbarn ergebnislos ein. Der Hund war nicht wiedergekommen. Erschöpft, müde und schon vor Kummer gealtert, betrat der Marquis wieder den Salon, der für ihn verödet war, obwohl er seine drei anderen Kinder dort vorfand. »Du bist sehr kalt gegen deine Tochter gewesen!« sagte er zu seiner Frau und sah sie scharf an. »Das ist nun alles, was uns von ihr bleibt«, fügte er hinzu und deutete auf den Stickrahmen, wo er eine angefangene Blume sah; »hier saß sie noch soeben, und nun verloren ... verloren!« Er weinte, barg seinen Kopf in den Händen und schwieg einen Augenblick. Er wagte nicht mehr, sich in dem Zimmer umzusehen, das ihm vordem einen so reinen Anblick häuslichen Glückes dargeboten hatte. Der Schein der Morgenröte kämpfte mit den erlöschenden Lampen. Die Kerzen verbrannten ihre rankenförmigen Papiermanschetten; alles paßte zu der Verzweiflung dieses Vaters. »Man muß dies hier zerstören«, sagte er nach einer Weile, indem er auf den Stickrahmen wies; »ich kann nichts mehr sehen, was mich an sie erinnert.« –
    Die schreckliche Weihnachtsnacht, in der dem Marquis und seiner Frau das Unglück widerfuhr, ihre älteste Tochter zu verlieren, ohne daß sie sich der rätselhaften Macht, die der unfreiwillige Entführer auf sie ausübte, widersetzen konnten, war wie eine Vorwarnung des Schicksals gewesen. Der Bankrott eines Wechselagenten ruinierte den Marquis. Er nahm Hypotheken auf die Güter seiner Frau auf, um eine Spekulation zu versuchen, deren Gewinn seiner Familie ihr früheres Vermögen zurückerstatten sollte; aber dieses Unternehmen richtete ihn vollends zugrunde. In seiner äußersten Verzweiflung wollte er noch einen letzten Versuch wagen und verließ sein Vaterland. Sechs Jahre waren seit seinem Weggang verflossen. Obgleich seine Familie die ganze Zeit nur spärliche Nachrichten von ihm erhalten hatte, zeigte er einige Tage bevor Spanien die Unabhängigkeit der amerikanischen Republiken erklärte, seine Rückkehr an.
    An einem schönen Morgen befanden sich einige französische Kaufleute, die voller Ungeduld waren, mit den in mühseliger

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