Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
Arbeit und auf gefahrvollen Reisen nach Mexiko oder Kolumbien erworbenen Reichtümern in ihr Vaterland zurückzukehren, auf einer spanischen Brigg, einige Meilen von Bordeaux entfernt. An der Reling lehnte ein Mann, der durch Strapazen und Kummer mehr, als es seine Jahre mit sich brachten, gealtert war und unempfindlich schien für das Schauspiel, das die in Gruppen auf dem Oberdeck stehenden Fahrgäste boten. Den Gefahren der Seefahrt entronnen und von der Schönheit des Tages angelockt, waren sie hinaufgestiegen, wie um von weitem ihr Vaterland zu begrüßen. Die meisten unter ihnen behaupteten, in der Ferne die Leuchttürme, die Bauwerke der Gascogne und den Turm von Cordouan zu sehen, die zwischen den phantastischen Gebilden einiger weißer Wolken am Horizont auftauchten. Das Meer war so ruhig, daß, ohne die Silberfranse, die das Fahrzeug einsäumte, ohne die lange, rasch zerfließende Furche, die es zog, die Reisenden hätten meinen können, ihr Schiff läge unbeweglich auf dem Ozean. Der Himmel war von einer wunderbaren Klarheit. Die dunkle Farbe seiner Wölbung ging in unmerklichen Abstufungen in die bläuliche Färbung des Wassers über, und den Punkt ihrer Verschmelzung bezeichnete ein leuchtender Strich, von dem ein Funkeln wie von Sternen ausging. Auf der ungeheuren Wasserfläche schimmerte die Sonne in Millionen Facetten, so daß noch mehr Glanz von unten auszugehen schien als von den Gefilden des Firmaments. Ein wunderbar sanfter Wind schwellte die Segel der Brigg, und diese blendendweißen Tücher, die flatternden gelben Flaggen, das Gewirr des Tauwerks zeichneten sich mit kräftigen Konturen, die von den Schatten herrührten, die die aufgeblähten Segel warfen, scharf gegen den leuchtenden Hintergrund der Luft, des Himmels und des Ozeans ab. Ein schöner Tag, ein frischer Wind, das Heimatland in Sicht, ein ruhiges Meer, ein melancholisches Rauschen, eine schmucke, einsame Brigg, die auf dem Ozean dahingleitet wie eine Frau, die zum Stelldichein eilt – das war ein Bild voller Harmonie, war eine Szene, in der die Seele des Menschen den unbeweglich ruhenden Raum umfassen konnte, da sie von einem Punkt ausging, bei dem alles Bewegung war. Es war ein unvergleichlicher Gegensatz von Einsamkeit und Leben, von Stille und Ton, ohne daß man wissen konnte, wo Ton und Leben, wo die Stille und das Nichts war; nicht eine menschliche Stimme brach diesen himmlischen Zauber. Der spanische Kapitän, seine Matrosen, die Franzosen standen oder saßen, ganz versunken in einer frommen Begeisterung, die voller Erinnerung war. Es lag Trägheit in der Luft. Die heitern Gesichter zeugten von einem vollkommenen Vergessen vergangener Leiden, und all die Männer schaukelten auf diesem sanften Schiffe wie in einem goldenen Traume. Jedoch betrachtete der alte Passagier von der Reling aus den Horizont von Zeit zu Zeit mit einer gewissen Unruhe. In seinen Zügen stand Mißtrauen gegen das Schicksal geschrieben, und er schien zu befürchten, daß sie nicht so bald den Boden Frankreichs betreten würden. Dieser Mann war der Marquis. Das Glück war gegen sein Flehen und die Anstrengungen seiner Verzweiflung nicht taub geblieben. Nach fünf Jahren mühseliger Versuche und Arbeiten sah er sich im Besitz eines beträchtlichen Vermögens. In seiner Ungeduld, in sein Vaterland zurückzukehren und seiner Familie das Glück zu bringen, war er dem Beispiel einiger französischer Handelsleute von Havanna aus gefolgt und hatte sich mit ihnen auf einem spanischen Segler mit Fracht für Bordeaux eingeschifft. Nichtsdestoweniger zauberte ihm seine Phantasie, die müde war, immer nur Unglück vorauszusehen, die köstlichsten Bilder seines vergangenen Glücks vor. Als er von ferne den braunen Strich sah, den das Land zog, glaubte er seine Frau und seine Kinder zu sehen. Er war zu Hause, am heimischen Herd, und fühlte, wie man ihn an sich drückte und liebkoste. Er stellte sich Moina vor, schön, groß geworden, stattlich wie eine Jungfrau! Als dieses Phantasiebild greifbare Gestalt angenommen hatte, traten ihm die Tränen in die Augen, nun, um seine Rührung zu unterdrücken, blickte er nach dem dunstigen Horizont, der der nebligen, Land verheißenden Linie gegenüberlag. »Da ist er ...«, sagte er, »er folgt uns.« – »Was ist's?« rief der spanische Kapitän. »Ein Schiff«, erwiderte der General leise. »Ich habe es schon gestern gesehen«, sagte Kapitän Gomez. Er sah den Franzosen prüfend an. Dann flüsterte er ihm ins Ohr: »Es hat die
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