Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
die deiner harren.« – »Ich denke an die seinen.« – »Was für ein Leben!« sagte der Vater. »Ein Frauenleben!« murmelte die Tochter. »Du bist sehr weise!« rief die Marquise, die endlich die Sprache wiederfand. »Mutter, die Fragen diktieren mir die Antworten; aber wenn Sie es verlangen, werde ich deutlicher sprechen!« – »Sage alles, meine Tochter ... ich bin Mutter!« Hier sah die Tochter die Mutter an, und dieser Blick ließ die Marquise innehalten. »Hélène, wenn du mir Vorwürfe zu machen hast, so will ich sie lieber hinnehmen, als daß ich dich einem Manne folgen sehe, den alle Welt mit Abscheu flieht.« – »Sie sehen wohl, Mutter, daß er ohne mich allein wäre!« – »Genug, Madame!« fiel der General ein; »haben wir also jetzt wirklich nur noch eine Tochter?...« Und er blickte auf Moina, die die ganze Zeit schlief. »Ich werde dich in ein Kloster sperren!« fügte er hinzu, indem er sich zu Hélène wandte. »Gut, Vater, ich werde dort sterben«, antwortete sie mit verzweiflungsvoller Ruhe; »du bist nur Gott für mein Leben und für seine Seele verantwortlich.«
Eine tiefe Stille folgte plötzlich diesen Worten. Die Zeugen dieses Auftritts, in dem alle hergebrachten Gefühle des sozialen Lebens über den Haufen geworfen wurden, wagten nicht, sich anzusehen. Plötzlich bemerkte der Marquis seine Pistolen, ergriff eine, spannte sie hastig und richtete sie auf den Fremden. Beim Geräusch, den das Spannen verursachte, drehte sich der Mann um, heftete seinen ruhigen, stechenden Blick auf den General, dessen Arm mit unüberwindlicher Schlaffheit wie gelähmt herabsank und die Pistole auf den Teppich gleiten ließ... »Meine Tochter«, sagte hierauf der Vater, den dieser schreckliche Kampf erschöpft hatte, »du bist frei! Umarme deine Mutter, wenn sie es dir gestattet! Was mich betrifft, so will ich dich nicht länger sehen und hören ...« – »Hélène«, sagte die Mutter zu dem jungen Mädchen, »bedenke, daß du ins Elend gerätst.« Ein röchelnder Ton, der sich der breiten Brust des Mörders entrang, zog die Blicke auf ihn. Ein verächtlicher Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Die Gastfreundschaft, die ich Ihnen gewährt habe, kommt mich teuer zu stehen!« rief der General und erhob sich; »vorhin haben Sie nur einen Greis getötet, hier morden Sie eine ganze Familie. Wie es auch kommen mag, in dieses Haus ist das Unglück eingekehrt.« – »Und wenn Ihre Tochter glücklich wird?« fragte der Mörder mit einem festen Blick auf den General. »Wenn sie mit Ihnen glücklich ist«, entgegnete der Vater mit äußerster Anstrengung, »werde ich ihren Verlust nicht beklagen.« Hélène kniete schüchtern vor ihren Vater hin und sprach zu ihm mit zärtlicher Stimme: »O mein Vater, ich liebe und verehre dich, ob du mir die Fülle deiner Güte oder die Härte deiner Ungnade zuwendest ... Aber ich flehe dich an, laß deine letzten Worte keine Worte des Zornes sein!« Der General wagte nicht, seine Tochter anzusehen. In diesem Augenblick trat der Fremde vor, und indem er Hélène ein Lächeln zukehrte, in welchem sich Teuflisches und Himmlisches vermischte, sagte er: »Engel der Barmherzigkeit, der vor einem Mörder nicht zurückschreckt, komm, da du darauf beharrst, mir dein Schicksal anzuvertrauen.« – »Unfaßbar!« rief der Vater aus.
Die Marquise warf ihrer Tochter einen unbeschreiblichen Blick zu und öffnete die Arme. Hélène stürzte weinend an ihre Brust. »Leb wohl, leb wohl, Mutter!« rief sie. Dann nickte sie dem Fremdling, der zusammenfuhr, kühn zu; sie küßte ihrem Vater die Hand, umarmte flüchtig und ohne Rührung Moina und den kleinen Abel und verschwand mit dem Mörder. »Welchen Weg schlagen sie ein?« rief der General, als er die Schritte der beiden Flüchtlinge sich entfernen hörte. »Mein Gott«, fuhr er zu seiner Frau gewendet fort, »ich glaube zu träumen: hinter diesem Abenteuer steckt ein Geheimnis! Sie müssen darum wissen.« Die Marquise schauderte. »Seit einiger Zeit«, versetzte sie, »war Ihre Tochter außerordentlich romantisch und seltsam exaltiert. Trotz meiner Bemühungen, diese Neigung ihres Charakters zu bekämpfen ...« – »Das ist nicht klar ...« Aber da er vermeinte, im Garten die Schritte seiner Tochter und des Fremden zu hören, unterbrach sich der General, um hastig das Fenster zu öffnen. »Hélène!« schrie er. Seine Stimme verhallte in der Nacht wie eine vergebliche Prophezeiung. Als er diesen Namen aussprach, auf den nichts in der
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