Die Frau von dreißig Jahren (German Edition)
der Welt unterwerfen.«
Dieser letzte Satz wurde mit leiser Stimme gesprochen. Aus einer tiefen innern Erkenntnis heraus schien er mit einem Blicke das ganze fürchterliche Elend zu übersehen, das dieser düstere Gedanke hervorrief: er warf Hélène einen Schlangenblick zu und rührte in dem Herzen dieses seltsamen Mädchens eine Welt noch schlummernder Gefühle auf. Es war, als hätte ein Lichtstrahl unbekannte Reiche vor ihr aufgetan. Ihre Seele wurde überwältigt, niedergezwungen, ohne daß sie vermocht hätte, sich der magnetischen Macht dieses Blickes, so unwillkürlich er sein mochte, zu entziehen. Beschämt und zitternd ging sie hinaus und kehrte erst unmittelbar vor ihrem Vater in den Salon zurück, so daß sie ihrer Mutter nichts berichten konnte.
Der General ging mit gleichförmigen Schritten stumm zwischen den Fenstern, die auf die Straße blickten, und jenen, die nach dem Garten gerichtet waren, auf und ab. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und war in tiefe Gedanken versunken. Seine Frau behütete Abels Schlaf. Moina, die in dem großen Lehnstuhl wie ein Vogel in seinem Neste hockte, schlummerte sorglos. Die älteste Schwester hielt in der einen Hand einen Seidenknäuel, in der ändern eine Nadel und starrte ins Feuer. Die tiefe Stille, die in dem Salon, draußen und im ganzen Haus herrschte, wurde nur von den schlurfenden Schritten der Dienstboten, die einer nach dem anderen schlafen gingen, oder von ihrem erstickten Gekicher, dem Nachhall ihres Hochzeitsjubels, unterbrochen; dann hörte man noch, wie die miteinander flüsternden Dienstboten ihre Zimmertüren erst öffneten und dann schlossen, auch von ihren Betten her kam noch hie und da ein dumpfer Laut. Ein Stuhl fiel um, man vernahm das schwache Husten eines alten Kutschers, das gleich wieder verstummte. Bald aber herrschte überall die finstere Majestät, welche um Mitternacht von der schlafenden Natur ausgeht. Nur die Sterne glänzten. Der Frost hatte die Erde ergriffen. Kein Wesen sprach noch regte sich. Nur am Knistern des Feuers konnte man die Tiefe der Stille wahrnehmen. Die Kirchenuhr von Montreuil schlug ein Uhr. In diesem Augenblick war im obern Stockwerk der leise Hall von außerordentlich leichten Schritten zu vernehmen. Der Marquis und seine Tochter, die sicher waren, den Mörder Monsieur de Maunys eingeschlossen zu haben, glaubten, daß diese Schritte von einem der weiblichen Dienstboten herrührten, und waren nicht erstaunt, als sie die Türen des vor dem Salon gelegenen Zimmers sich öffnen hörten. Mit einemmal erschien der Mörder unter ihnen. Die Bestürzung, in die der General geriet, die Neugierde der Marquise und das Erstaunen der Tochter waren so groß, daß er bis in die Mitte des Zimmers gelangen konnte. Er sagte zum General mit einer seltsam ruhigen, melodischen Stimme: »Monseigneur, die zwei Stunden gehen zu Ende.« – »Sie hier!« rief der General, »durch welche Macht...?« Und mit einem fürchterlichen Blick befragte er seine Frau und seine Kinder. Hélène wurde feuerrot. »Sie«, fuhr der General im scharfen Ton fort, »Sie in unserer Mitte! Ein blutbesudelter Mörder hier! Sie schänden dieses Bild! Gehen Sie! Gehen Sie!« schloß er in höchstem Zorn.
Bei dem Wort ›Mörder‹ stieß die Marquise einen Schrei aus.
Was Hélène betraf, so war es, als ob dies Wort über ihr Leben entschiede; ihr Gesicht verriet nicht das mindeste Erstaunen. Es war, als hätte sie diesen Mann erwartet. Ihre unklaren Gedanken bekamen einen Sinn. Die Strafe, die der Himmel wegen ihrer Verfehlungen über sie verhängt hatte, offenbarte sich. In dem Glauben, daß sie ebenso schuldig sei, wie es dieser Mann war, sah sie ihn mit ruhigem Auge an: sie war seine Gefährtin, seine Schwester. Ein Gebot Gottes tat sich für sie in diesem Ereignis kund. Einige Jahre später hätte die Vernunft ihre Gewissensqualen eingedämmt; in diesem Moment brachten sie sie von Sinnen. Der Fremde blieb unbeweglich und kalt. Ein verächtliches Lächeln trat auf seine Züge und die vollen, roten Lippen. »Sie danken mir die Vornehmheit meines Verhaltens gegen Sie schlecht«, sagte er langsam; »ich habe das Glas, in welchem Sie mir Wasser gegeben haben, um meinen Durst zu stillen, nicht mit meinen Händen berühren wollen. Ich habe nicht einmal daran gedacht, meine blutigen Hände unter Ihrem Dache zu waschen, und nichts bleibt in Ihrem Hause von meinem ›Verbrechen‹« – bei diesen Worten preßte er die Lippen zusammen – »zurück als die
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