Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
hatte sie es abgelehnt, einen schriftlichen Befehl auszustellen,
der Shannons Technikerin trotz ärztlich bestätigter Krankheit zum Dienst
zwingen sollte.
Doch die zweite Person in der Aufzeichnung war nicht sie; ihre
Stimme klang ähnlich, doch nicht mehr. Oft schon hatte Karen Aufzeichnungen
ihrer Stimme gehört und wusste, wie sie sich für andere anhörte. Mittlerweile war
sie auch in der Lage, kleinste Nuancen und Stimmungsschwankungen herauszuhören.
Als wäre das nicht schon genug gewesen, sagte die Stimme auch noch Dinge, die gesagt
zu haben sie sich nicht erinnern konnte. Karen flüsterte ihrem Verteidiger ein
paar Worte ins Ohr.
Dieser nickte bestimmt.
Als das ehrenwerte Gericht der Verteidigung das Wort gab,
suchte Jason Freeman um eine Vertagung der Verhandlung an, die ihm auch prompt
bewilligt wurde.
17
Robert
Zubrin , 2093
Interesse, das eben noch in seinem Blick
gelegen hatte, war mit einem Schlag einer Gereiztheit gewichen, von der Robert
selbst nicht sagen konnte, wo diese so plötzlich ihren Ursprung gefunden hatte.
Er sah den Alten an. »Eine spannende Geschichte! Wirklich!« Im selben Moment
dachte er, dass er noch nie ein ›wirklich‹ ausgesprochen hatte, das
unwirklicher klang, als eben gerade dieses. Würde er es selbst glauben oder
müsste man ihn schon gewaltsam dazu zwingen?
Der Alte sah ihn zynisch an. »Sie haben auch schon mal
überzeugender geflunkert.«
Robert schluckte. »Wirklich?«
Das faltige Gesicht seines Gegenübers verzog sich zu einem
Schmunzeln. »Sehen Sie, das klang jetzt überzeugend und glaubwürdig, finden Sie
nicht?«
Robert musste lachen. »Aber warum unterbrechen Sie Ihre
Erzählung gerade jetzt, mitten in der Verhandlung? Als Journalist habe ich
nicht nur ein Interesse an Geschichten, sondern vor allem auch daran, wie diese
enden und was sie dem Leser für eine Botschaft vermitteln.«
»Eine Botschaft?«, sagte der Alte und kniff die Augen
zusammen.
»Ja, ganz recht, eine Botschaft, eine Aussage, eine
Lebensweisheit.«
»Welche Aussage könnte stärker sein, als die Wahrheit, die
sich uns ständig entzieht, welche mehr Lebensweisheit beinhalten als die
Wirklichkeit?«
Der Philosoph war zurück. Robert rutschte ganz an die Kante
seines gemütlichen Fauteuils, als läge ihm daran, jeden Augenblick aufspringen
und die Lounge verlassen zu können.
»Schauen Sie mich nicht so groß an, junger Freund, Sie
sollten als Mensch im Allgemeinen und als Journalist im Besonderen sehr wohl in
der Lage sein, diesen feinen Unterschied zu kennen. Eine Wirklichkeit, die
objektiv und unantastbar auf ihrem Podest thront, während jedes von uns kleinen
Geschöpfen sich daraus seine eigene Wahrheit bastelt. Ihre Interessen, Robert,
gelten einzig und allein, und das meine ich nun wirklich nicht abwertend, den
journalistischen Belangen; wie geht die Geschichte zu Ende?; gibt es ein Happy
End?; wird das Böse bestraft und siegt zur Abwechslung einmal das Gute?
Menschliche Schicksale, nichts weiter als unbedeutende Nuancen in der
Weltgeschichte. Und doch sind es gerade die Schicksale dieser Individuen, die
weit draußen an den Rändern der Gaußverteilung ihre Nische gefunden haben, die unser
Interesse wecken und uns so viel zu sagen haben. Denken Sie nur an einen tauben
Komponisten. Ganz recht, ich meine Beethoven. An einen Physiknobelpreisträger
mit Dyslexie – Albert Einstein, an ein Astrophysikgenie mit einer Erkrankung
des motorischen Nervensystems – Stephen Hawking. Was sagen uns, was sagen Ihnen
all diese menschlichen Schicksale? War Beethoven ein Gewinner, weil er neun
Sinfonien schrieb, die in die Musikgeschichte eingingen? War er ein Verlierer,
weil er sein Gehör verlor? Die Wirklichkeit ist klar und unverrückbar, doch wo
ist die Wahrheit? Wo sehen Sie sie? Existiert sie in dieser Form überhaupt noch?«
Der Alte schnappe nach Luft.
»Okay, ich verstehe. Sie haben recht. Als Journalist bin
ich, wenn Sie so wollen, ein Schwarz-Weiss-Maler. Es gibt keine Graustufen bei
mir, und falls doch, so reduziere ich sie auf Dunkelweiß und Hellschwarz. Ich
mache die Geschichten, die das Leben schrieb, die Wirklichkeit sozusagen,
leichter verständlich. Ich trachte danach, dem Leser Sympathien oder
Antipathien zu präsentieren und ihm Ambivalenzen zu ersparen. Deshalb will ich auch
wissen, wie die Geschichte ausging.«
Wortlos sah ihn der Alte an.
Gleich, so vermutete Robert, würde der Greis, dessen Jahre
Methusalem wie einen testosteronstrotzenden Achtzehnjährigen
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