Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
offizielleren Verhör mit der Reichsmordkommission nicht offenbaren würde. Haraldsson kam ja nicht in seiner Eigenschaft als Polizist, sondern eher als Mitmensch. Nach einem weiteren Blick auf die Uhr beschloss er, dem Sicherheitstrakt einen kleinen, improvisierten Besuch abzustatten.
E dward Hinde war überrascht, als die Wärter ihn um kurz nach halb sieben aus seiner Zelle holten. Nach achtzehn Uhr, wenn das Abendessen gebracht wurde, kam das sonst nie vor. Normalerweise hatte er zwanzig Minuten Zeit zum Essen, dann wurde das Tablett abgeholt, anschließend war er allein, bis er am nächsten Tag um halb sieben geweckt wurde. Zwölf Stunden allein mit seinen Büchern und seinen Gedanken. Tag für Tag, an Werktagen wie am Wochenende. Ereignislose Stunden, die sich inzwischen zu einem halben Leben angesammelt hatten.
Allerdings passierte in den übrigen zwölf Stunden des Tages auch nicht sonderlich viel. Nach dem Frühstück standen ihm zwanzig Minuten im Badezimmer zu und danach eine halbe Stunde Freigang. Allein. Letzteres war freiwillig, er konnte auch auf Wunsch in der Bibliothek bleiben. Meistens entschied er sich dafür. Abends dann wieder Badezimmer und zurück in die Zelle, wo er auf das Abendessen wartete.
Jede zweite Woche hatte er eine einstündige Sitzung bei einem Psychologen. Edward hatte über die Jahre hinweg viele von ihnen kennengelernt, und alle hatten eines gemein: Sie langweilten ihn. Zu Beginn seiner Haft in Lövhaga hatte er gesagt, was sie hören wollten, doch inzwischen bemühte er sich gar nicht mehr. Es schien ohnehin niemanden wirklich zu interessieren. Vierzehn Jahre ohne sichtbaren Fortschritt, das dämpfte selbst den Enthusiasmus der Hartnäckigen. Die Letzten in der Reihe schienen nicht einmal die Akten ihrer Vorgänger gelesen zu haben. Dennoch hörten die Besuche der Psychologen nicht auf. Er sollte nicht einfach nur bestraft werden.
Sondern auch rehabilitiert.
Sollte ein besserer Mensch werden.
Routinen und Sinnlosigkeit. Daraus bestanden seine Tage. Sein Leben. Mit nur wenigen Abweichungen. Aber heute Abend passierte es. Er wurde von zwei Wärtern aus seiner Zelle geholt und in einen der Besucherräume geführt. Dort war er schon ewig nicht mehr gewesen. Wie viele Jahre? Drei? Vier? Mehr? Er konnte sich nicht erinnern. Der Raum sah immerhin noch genauso aus wie früher. Kahle Wände. Ein feinmaschiges Gitter vor den Fenstern aus bruchsicherem Glas. Zwei Stühle. Dazwischen ein Tisch, der am Boden festgeschraubt war. Auf der Tischplatte waren zwei Metallringe befestigt. Die Wärter warteten, bis er auf einem der unbequemen Stühle Platz genommen hatte, und ketteten seine Hände mit den Handschellen an den Tisch. Dann verließen sie den Raum. Edward blieb allein zurück. Wer mit ihm sprechen wollte, würde sich ohnehin bald herausstellen, also hatte es keinen Zweck, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen. Stattdessen versuchte er, darauf zu kommen, wen er das letzte Mal getroffen hatte, als er an diesem Tisch festgekettet gewesen war. Es fiel ihm nicht ein, und dann hörte er auch schon, wie die Tür aufging und jemand hereinkam. Edward widerstand dem Impuls, sich umzudrehen. Er saß unbeweglich da und starrte geradeaus. Es gab keinerlei Grund, seinem Besuch das Gefühl zu geben, dass er erhofft wäre. Der Hall der Schritte hinter ihm erstarb, die Person war stehen geblieben. Betrachtete ihn vermutlich. Edward wusste, was der Besucher sah. Einen kleinen, schmächtigen Mann, knapp einen Meter siebzig groß. Dünnes Haar, das über den Kragen fiel, zu dünn, um es so lang zu tragen, jedenfalls wenn man den Anspruch hatte, gut auszusehen. Er trug dieselbe Kleidung wie alle Insassen im Hochsicherheitstrakt. Weiche Baumwollhosen und einen einfachen, langärmligen Baumwollpullover. Wenn der Gast näher käme, würde er leicht wässrige, blaue Augen hinter einer randlosen Brille sehen. Bleiche, eingefallene Wangen mit Dreitagebart. Einen Mann, der älter aussah, als er es mit seinen fünfundfünfzig Jahren war.
Jetzt ging der Mann weiter. Edward war sich sicher, dass es ein Mann war. Die Art der Schritte und das fehlende Parfüm verrieten es ihm. Wie sich herausstellte, hatte er recht. Ein kleiner, ziemlich gewöhnlich aussehender Mann in kariertem Hemd und Chinohosen nahm auf dem Stuhl gegenüber Platz.
«Hallo. Ich heiße Thomas Haraldsson, und ich bin der neue Anstaltsleiter.»
Edward sah seinem Besucher zum ersten Mal in die Augen.
«Edward Hinde, sehr erfreut. Sie sind
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