Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
es, vorzutreten, sichtbar zu werden und das Wort zu ergreifen, und beim anschließenden Kaffee heimste sie gerne das Lob der anderen Teilnehmer dafür ein und gab umgekehrt auch ein positives Feedback für deren Einsatz während der Sitzung. Doch heute Abend war das anders – wegen des neuen Mannes, der ihr gegenübersaß. Seine Blicke lösten etwas bei ihr aus. Erst hatten sie sie erschreckt. Dann war sie neugierig geworden. Es war, als könne er direkt in sie hineinsehen. Anders konnte sie es nicht beschreiben. Wenn sie zu reden begann, hörte er zu und betrachtete sie. Nicht herablassend, sondern eher erotisch aufgeladen, als würde er sie mit den Augen ausziehen, aber nicht in sexueller Hinsicht, sondern vielmehr intellektuell. Sie konnte das Gefühl nicht in Worte fassen, es war ihr nie zuvor begegnet.
Er sah sie an. Und zwar wirklich.
Das war erregend und angsteinflößend zugleich, weshalb Annette beschloss, direkt im Anschluss an die Sitzung nach Hause zu gehen. Jetzt merkte sie jedoch, dass sie sich dem Ausgang nicht schnell genug genähert hatte. Ein Teil von ihr wollte eine Extrarunde drehen und erneut diesem Blick begegnen. Der andere Teil wollte einfach nur fliehen. Im Augenwinkel sah sie den Mann auf sich zu kommen. Selbstbewusst. Zielsicher. Er wollte zu ihr, das war ihr klar. Sie musste sich darauf einstellen. Wenn sie nicht wenigstens versuchte, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, würde sie es später bereuen. Er hatte den ganzen Abend über nichts gesagt. Aber jetzt öffnete er den Mund:
«Hallo, wollen Sie denn gar keinen Kaffee trinken?»
Seine Stimme gefiel ihr.
«Ich weiß nicht … ich …» Annette dachte schnell nach. Sie wollte nicht abweisend klingen, aber auch nicht wankelmütig und unentschieden. Ja, jetzt wollte bleiben und Kaffee trinken, aber wie sollte sie das zugeben? Im Prinzip hatte er sie angesprochen, als sie bereits mit einem Bein aus der Tür war.
«Kommen Sie schon, für eine Tasse Kaffee und ein eingeschweißtes Delicato Mazarin werden Sie doch wohl noch Zeit haben?»
Er rettete sie. Begriff, dass er sie am Gehen gehindert hatte. Überredete sie zu bleiben. Nun wäre es beinahe unhöflich, nein zu sagen. Sie lächelte ihn dankbar an.
«Ja, das habe ich wohl.»
Sie gingen nebeneinander zurück zum Kaffeetisch.
«Ich heiße übrigens Sebastian Bergman», sagte der Mann und streckte Annette die Hand hin. Sie drückte sie, unbeholfen, wie sie fand, aber seine Hand war warm und sein Lächeln noch wärmer.
«Annette Willén. Freut mich, Sie kennenzulernen.»
Er hielt ihre Hand einen Moment zu lange fest, und ihr kam es plötzlich so vor, als wäre all ihre Unbeholfenheit verschwunden. Er sah sie an, und sie fühlte sich mehr als nur gesehen. Bedeutend mehr. Er sah sie als die Person, die sie selbst sein wollte.
«Sie haben heute Abend ja nicht viel gesagt», stellte sie fest, während er ihr Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte.
«Habe ich überhaupt was gesagt?», fragte er, noch immer lächelnd.
Annette schüttelte den Kopf.
«Ich glaube nicht.»
«Ich eigne mich eher als Zuhörer.»
«Das ist aber ungewöhnlich. Ich meine, dass man hierherkommt, um zuzuhören. Die meisten wollen gerne etwas erzählen», sagte Annette und entfernte sich einige Schritte vom Kaffeetisch. Sie wollte jetzt nicht von den anderen gestört werden. Sebastian folgte ihr und beschloss, sich interessiert zu geben.
«Wie lange sind Sie schon in der Gruppe?»
Annette überlegte, ob sie die Wahrheit sagen konnte. So lange, dass sie es gar nicht mehr genau wusste. Nein, das klänge zu traurig. Zu schwach. Er würde einen falschen Eindruck von ihr bekommen. Vorschnell ein Urteil fällen. Sie entschied sich zu lügen, jedenfalls, was die Zeitspanne anging.
«Anderthalb Jahre ungefähr. Ich habe mich scheiden lassen, wurde arbeitslos, und dann traf mein Sohn seine große Liebe und zog nach Kanada. Ich landete in einer Art … Vakuum.»
Zu viel, zu früh. Er hatte nicht gefragt, warum sie hier war, sondern nur wie lange. Annette zuckte schnell mit den Schultern, als wollte sie ihr Problem bagatellisieren.
«Ich musste darüber reden. Aber ich bin dabei, mich davon zu lösen», fügte sie schnell hinzu. «Man muss schließlich weiterkommen im Leben. Oder?» Sie lächelte ihn an.
Sebastian sah für eine Sekunde zu Stefan hinüber, der noch immer tief in die Diskussion mit den beiden Männern verwickelt war. Sein Blick blieb an den dreien hängen, und Annette hatte plötzlich das
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