Die Frauen, die er kannte: Ein Fall für Sebastian Bergman (German Edition)
4,5 Zentimeter. Er musste es jedes Mal exakt ausmessen, dachte sie. Das dauerte. Aber er nahm sich die Zeit. So berechnend war er. So wenig aus der Ruhe zu bringen. So wichtig war es ihm, das Richtige zu tun.
Ein Ritual. Wie bei Hinde.
Um ihn zu kopieren. Bis ins kleinste Detail.
Sie schauderte erneut.
Nachdem sie auch im Keller Fotos gemacht hatte, war sie zurück auf den Balkon gegangen. Als sie Torkel in die Wohnung kommen hörte, wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen. Er schien nach ihr zu suchen und ging, ohne sie auf dem Balkon zu bemerken, in die kleine Küche.
«Torkel, hier!», rief sie und klopfte gegen das Fenster. Torkel streckte den Kopf aus der Küche und nickte ihr zu. Sein Blick war ernst.
Er trat zu ihr auf den Balkon und fing mit dem Einfachen an, mit dem, was ihm begreiflich war. «Wir haben die Nachbarn befragt, bisher aber ohne Ergebnis. Annette war ordentlich und ruhig. Hat nicht viel Aufsehen erregt. Ihr früherer Mann war wohl ein ziemlicher Fiesling. Aber ihn hat schon seit Monaten niemand mehr zu Gesicht bekommen.»
Ursula nickte und sah wieder in die Ferne.
«Was ist mit der Freundin, die sie gefunden hat?»
«Lena Högberg, sie wohnt ein Stück von hier entfernt. Die beiden waren zum Mittagessen verabredet, doch Annette ist nicht gekommen. Die Freundin hat sie daraufhin den ganzen Nachmittag versucht zu erreichen, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen.»
Ursula nickte.
«Sie ist seit weniger als zwölf Stunden tot.»
«Annette hatte es in den letzten Jahren anscheinend nicht so leicht», fuhr Torkel fort, «also wurde Lena unruhig und beschloss, nach der Arbeit nach ihr zu schauen. Durch den Briefschlitz in der Wohnungstür konnte sie die Blutflecken auf dem Boden sehen …»
«Inwiefern hatte sie es nicht leicht?»
«Scheidung, der Sohn ist ins Ausland gezogen, sie hat ihre Arbeit verloren. Offenbar war sie ziemlich deprimiert.» Torkel blickte auf den Essingeleden, ehe er fortfuhr. «Vanja überprüft gerade ihren Exmann.»
«Das ist gut, aber wir haben es hier mit demselben Mörder zu tun. Mit keinem anderen.»
Torkel seufzte schwer. Ursula sah ihn an. Er wirkte ungewöhnlich verbissen. Auf eine Weise bedrückt, wie er es an Tatorten normalerweise nicht war. Natürlich empfanden sie es alle als große Niederlage, dass sie abermals den Tod einer Frau nicht hatten verhindern können, aber diesmal schien es Torkel schwerer zu treffen als sonst.
«Wir müssen jetzt einfach alles richtig machen», sagte er frei heraus, mehr zu sich selbst als zu ihr. «Uns darf nichts entgehen.»
Sie schwiegen eine Weile und blickten auf die Autobahn. Torkel nahm Ursulas Hand und wandte sich ihr zu. Sie sah ihn verwundert an, zog ihre Hand jedoch nicht zurück.
«Wir haben noch ein größeres Problem. Ein sehr großes.»
«Und das wäre?»
«Bist du sicher, dass sie seit weniger als zwölf Stunden tot ist?»
«Das ist aufgrund der Hitze schwer zu sagen, aber ungefähr zwischen sechs und zwölf Stunden. Warum?»
Torkel drückte ihre Hand noch fester.
«Sebastian hatte letzte Nacht Sex mit ihr.»
«Was sagst du da?»
«Ich sage, dass unser Sebastian Bergman Sex mit ihr hatte und diese Wohnung erst vor ungefähr zwölf Stunden verlassen hat.»
Jetzt schauderte ihr richtig.
Die ersten beiden Male war sie unbeobachtet gewesen, aber diesmal nicht.
S ebastian spürte, wie alles aus ihm entwich. Alles. Die Luft. Die Handlungskraft. Der Gleichgewichtssinn. Fast wäre er hingefallen, konnte sich aber im letzten Moment an der Tischkante festhalten. Krampfhaft klammerte er sich an die helle Holzplatte, als wäre sie die letzte Möglichkeit, ihn vor dem Abgrund zu bewahren, der sich gerade vor ihm aufgetan hatte.
Es war unmöglich.
Total, komplett unmöglich.
Und doch war es wahr.
Er war darauf gestoßen, als er fieberhaft weitergesucht hatte zwischen den Bildern, Verhören, Zeugenaussagen, persönlichen Daten. Überall stieß er auf Zusammenhänge und Erinnerungen, die er vorher nicht gesehen hatte. Die Wahrheit erhob sich vor ihm wie ein blasser, selbständiger Körper und verdrängte Zweifel, Hoffnung und letzte Unklarheiten. Sie ergriff von seiner Seele Besitz wie eine fremde Kraft. Er zitterte und rang nach Luft. Die Macht, mit der ihn diese brutale Erkenntnis überrollte, erinnerte ihn an jenen Tag an einem Strand in Khao Lak, als ihm diese kreidebleiche, unversöhnliche Gestalt schon einmal begegnet war. Damals, als er halbnackt, blutig und zerschunden zwischen Treibgut
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