Die Frauen von Clare Valley
Tischlampe. Sie hatte sich in Zimmer elf gut eingelebt. In den Jahren davor hatte sie, manchmal sehr kurzfristig, von Zimmer zu Zimmer ziehen müssen, wenn eine große Gruppe kam. Doch in letzter Zeit hatten die Buchungen nachgelassen. Das war nicht gut für Geraldines und Jims Bilanz, wohl aber für Lolas innere Ruhe. War auch das ein Symptom des Alters? Der Drang, sich in einer Höhle zu verstecken?
Nicht, dass sie je vertraute Möbel oder Gemälde gebraucht hätte, um sich irgendwo heimisch zu fühlen. Ihr hatten immer zwei oder drei Deko-Objekte genügt, im Schrank ihre Lieblingsoutfits – vorwiegend aus Chiffon und Seide, damit sich alles problemlos falten und packen ließ – und in späteren Jahren noch einige Halsketten und die Blumen, die sie sich so gern ins Haar steckte. Alles, was sie darüber hinaus zu einem glücklichen Leben benötigte, war in ihrem Kopf gespeichert und konnte jederzeit zur inneren Betrachtung abgerufen werden. Das war der Vorzug eines hohen Alters, vorausgesetzt, man hatte Glück, und der Verstand und das Gedächtnis funktionierten. Lola kam es so vor, als hätte sie Zugriff auf die größte Mediathek der Welt. Zu ihrer Unterhaltung musste sie bloß einen Moment lang die Augen schließen und durch acht Jahrzehnte voller Erinnerungen spulen, schon sah sie glückliche Zeiten, traurige Momente, Schmachtfetzen und romantische Komödien.
Nur mit der Romantik haperte es. Leider. Nach dem Ende ihrer Ehe war sie nur noch eine einzige ernsthafte Beziehung eingegangen. Mit einem tollen Mann. Noch nach fünfzig Jahren sah sie sein Gesicht, hörte sie noch seine Stimme. Zehn zauberhafte Monate, eine unerwartete Liebesbeziehung mit einem unglücklicherweise sehr abrupten Ende. Er war sicher längst tot. So wie die meisten ihres Jahrgangs. Eine Zeit lang hatte Lola regelmäßig die Todesanzeigen überflogen, doch irgendwann war daraus eine Abrufliste ihrer Freunde geworden. Sie war auf so vielen Beerdigungen gewesen, dass sie sich zutraute, selbst ein Begräbnis durchzuführen. Annas war mit Abstand das traurigste gewesen. Das schwerste. Jeder Augenblick hatte sich in Lolas Gedächtnis eingebrannt …
Genug! Genug der traurigen Gedanken. Weitermachen, weitersehen, weiterplanen. Weihnachten nahte mit großen Schritten, und Lola musste für ihre kleine Extravaganz noch einiges erledigen. Untätiges Herumsitzen und Grübeleien über Tod und Leben füllten weder den Truthahn noch verpackte das Geschenke! Außerdem wollte sie sich Ellens misslicher Lage zuwenden.
Lola holte einen Schreibblock und notierte sich erste Ideen, um aus dem Weihnachtsfest im Valley View Motel nicht nur etwas Besonderes, sondern etwas ganz Besonderes zu machen.
Essen unter freiem Himmel. Sie wusste auch schon, wo. Auf der Rasenfläche neben dem Motel, zwischen einem Eukalyptusbaum, einer Weide und einem undefinierbaren Baum mit langen, grünen Blättern, den sie den »Langen Grünen« nannte. Dort lagen im Moment zwar keine paradiesisch grünen Auen, doch Lola hatte neulich im Schaufenster des Baumarkts das Richtige gesehen – künstliches Gras, das man rollenweise kaufen konnte. Man würde ihr doch sicher ein paar Meter leihen, damit sie ihren Gästen eine Oase schaffen konnte? Und was den Tisch anging – der brauchte Farbe. Es musste auch kein passendes Geschirr sein. Und natürlich wollte sie einen Tafelaufsatz. Sie hatte in einer Biografie gelesen, dass eine der Mitford-Schwestern einst einen Glaskasten mit lebenden Hühnern auf ihren opulenten Esstisch gestellt hatte. Das hatte Lola sich gemerkt. So etwas würde ihren Gästen reichlich Gesprächsstoff bieten. Allerdings waren Hühner nicht typisch australisch. Vielleicht ein Käfig mit einem Kookaburra? Nein, ein Vogel in einem Käfig, das gefiel ihr nicht. Schlangen? Ein Glas mit Schwarzen Witwen? Sich das zu überlegen, war noch Zeit.
Nun zum Essen – auch dazu war ihr schon das eine oder andere eingefallen. Es ergab wenig Sinn, einen traditionellen Truthahn samt Christmas Pudding aufzutischen, da doch heutzutage jeder eine kleine Marotte hatte und alles Mögliche nicht aß. Am besten, sie fragte ihre Gäste – Neil, Martha, Helen und Tony, Holly und ihre Töchter – nach ihrem Lieblingsessen, ihrem Lieblingsgetränk, ja, sogar nach ihren Lieblingswitzen, und genau danach würde sie sich richten. Das würde sensationell! Sie sah es vor sich, die Tafel, die Gespräche, das Gelächter, die Scherze. Nur leider erschien vor ihrem geistigen Auge niemand, der das
Weitere Kostenlose Bücher