Die Frauen von Clare Valley
verdecken. Hatte sich Geraldine etwa so früh angeschlichen, dass sie die E-Mail gesehen hatte? Oder gar, dass Lola mit »Inhaberin« unterzeichnet hatte? Denn das war ein heikles Thema. Lola hatte sich offiziell an ihrem siebzigsten Geburtstag aus dem Geschäft zurückgezogen und die alleinige Eigentümerschaft an Jim und seine Familie übertragen. »Obwohl ich meinen Schnabel hin und wieder in den Laden stecken werde, wie ihr sicher wisst«, hatte sie gesagt.
»Alles andere würde mich auch sehr erstaunen«, hatte Jim gelacht. Geraldine hatte nicht einmal gelächelt.
»Wie geht es Carries kleinen Lieblingen?«, fragte Lola. »Schaukeln sie schon an den Kronleuchtern?«
»Jim liest ihnen vor. Sind wir wieder online?«
Lola drehte sich zum Computer zurück und schloss rasch ihr E-Mail-Programm. »Große Güte, ja. Sieht ganz so aus. Ist das nicht wunderbar? Das hat auch lang genug gedauert. Wann habe ich die Störung gemeldet? Vor einer Woche? Oder einem Monat? Ich weiß es schon nicht mehr.«
»Vor genau sechs Tagen«, sagte Geraldine. »Ich muss einige Bestellungen aufgeben. Lola, du erlaubst?«
»Was denn?« Sie gab sich bewusst begriffsstutzig. Sie hatte sehr wohl verstanden, dass Geraldine sie vom Computer und aus dem Büro verscheuchen wollte. Aber sie war sich nicht sicher, ob der Ordner »Lolas Geheimnis« verborgen war. Sie spielte auf Zeit. »Ach, du willst an den Computer? Ich Trottel! Ich sage dir, mein Verstand lässt täglich nach. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis so was bei mir ankommt. Ich würde wahrscheinlich hin und wieder meinen Kopf vergessen, wäre er nicht an meinen Hals geschraubt. Weißt du, dass ich gestern eine halbe Stunde lang versucht habe, in mein Zimmer zu kommen, weil ich fest davon überzeugt war, dass es am Schlüssel lag? Und dabei war ich vor der falschen Tür! Ist es zu fassen?«
Geraldine gab keine Antwort. Sie wartete. Wenn der Bürostuhl ein Schleudersitz gewesen wäre, hätte Geraldine ihn bestimmt längst aktiviert und Lola wie eine Comic-Figur durch das Dach geschossen. Lola blieb keine Wahl. Wenn sie sich umdrehen und den Ordner verschieben würde, würde sie Geraldine erst recht misstrauisch machen. Sie rappelte sich gespielt mühsam auf, obwohl es in Sachen Beweglichkeit ein guter Tag gewesen war. »Mich lässt offenbar nicht nur der Verstand im Stich. Manchmal kann ich mich kaum rühren, so schmerzen die Gelenke. Nicht mehr lange, Geraldine, und ich werde das Zeitliche segnen, dann hast du deine Ruhe.«
Jeder andere hätte über eine solche Bemerkung gelacht – oder widersprochen. Nicht so Geraldine. »Danke, Lola. Ich mache den Computer aus, wenn ich hier fertig bin?« Doch eine Frage war das nicht.
»Sicher, Geraldine. Spar Strom, wann immer es nur geht. Das war stets meine goldene Regel effizienten Haushaltens.«
Am nächsten Morgen, noch bevor Lola dazu kam, sich anzuziehen und wieder ins Büro zu gehen, erschien Jim bei ihr. Sein breites, offenes Gesicht war wie stets gebräunt, seine große, stämmige Gestalt steckte in einem makellos weißen Hemd, gebügelten Hosen und glänzenden Schuhen. Selbst als kleiner Junge war er ordentlich und sauber aufgetreten, was Lola köstlich amüsiert hatte. Von ihr hatte er das sicher nicht. In den Händen trug er ein Tablett mit ihrem Lieblingsfrühstück – Pilzomelette –, einer großen Kanne Tee und zwei Tassen.
»Darling!« Lola strahlte und zog einen violetten Seidenmorgenrock über ihren hellgelben Seidenpyjama. »Wie aufmerksam von dir. Ich habe heute nicht Geburtstag, oder?«
»Nein. Ich hatte einfach Lust, dich zu verwöhnen.«
»Dich hat man wirklich hervorragend erzogen. Wessen Werk war das? Oh, richtig – das war meins. Was für eine reizende Idee. Und das hast du alles selbst gemacht?«
»Mit eigenen Händen. Und drei Eiern und einem Schälchen Champignons.«
Lola kostete einen Bissen. »Perfekt, mein lieber Jim, ich danke dir.«
»Wann hast du Geburtstag, Lola?«
Lola hielt im Kauen inne und lächelte. »Du bist heute aber seltsam.«
Er wartete.
»Ich habe im Februar Geburtstag, Darling. Weißt du das nicht mehr? Die alte Dame, die im Speisesaal vor einem knappen Jahr vierundachtzig Kerzen ausgepustet hat? Das war ich.«
»Natürlich.« Er nahm seine Tasse in beide Hände.
»Was ist los, Jim?«
»Nichts.«
»Nichts? Es ist also vollkommen normal, dass du mir Frühstück ans Bett bringst, seufzend und besorgten Blickes dasitzt und mich fragst, wann ich Geburtstag habe? Machst du dir
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