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Die Frauen von Clare Valley

Die Frauen von Clare Valley

Titel: Die Frauen von Clare Valley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monica McInerney
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und Margarets, staunten und lachten jedes Mal aufs Neue.
    »Funktioniert das auch in umgekehrter Richtung?«, fragte Lola. »Könnte man ein Kinderbild einscannen und als Erwachsenen sehen?«
    »Natürlich«, erwiderte Kay. »Ich habe das mit meinen Enkeln schon gemacht. Wenn es wirklich so kommt, sind zwei der Jungs mit fünfzig kahl, und aus einem der Mädchen wird ein Topmodel. Dabei ist sie erst drei. Sollte ich Wetten auf ihren Beruf abschließen?«
    Lola zog das Foto von Ellen hervor, das immer in ihrem Portemonnaie war. In wenigen Minuten scannte Kay das Bild ein, lud es hoch in das Programm, gab Lolas Musikwunsch ein, lehnte sich zurück und klickte auf »Los«.
    Lola traute ihren Augen – und ihren Ohren – kaum. Zu Ellens Lieblingsschlaflied Don’t Sit Under the Apple Tree verwandelte sich eine niedliche Zwölfjährige in eine hübsche Vierzehnjährige, schöne Zwanzigjährige, wurde älter, älter, Ende zwanzig, Anfang dreißig …
    »Stopp, bitte!«, rief Lola. »Halt an.«
    Auf dem Bildschirm war eine Frau in den Dreißigern zu sehen. Das Ebenbild von Anna.
    »Große Güte«, murmelte Margaret. Auch sie hatte Anna gekannt. »Das ist unglaublich.«
    Es war mehr als unglaublich. Es war fast beängstigend. Plötzlich war das für Lola keine alberne Spielerei mehr. Zu viele Erinnerungen stürmten auf sie ein, traurige, glückliche – viel zu viele. Sie sah mit großem Theater auf die Uhr und gab sich völlig überrascht. »Tut mir leid, ich muss los. Ich rufe mir wohl lieber ein Taxi und warte nicht auf Luke. Bis bald, ihr Lieben!«
    Es wurden einige besorgte Blicke getauscht, doch niemand hielt sie auf. »Bis bald, Lola«, riefen sie im Chor zurück.
    Als Lola abends auf ihrem Bett lag, ihr kleines Radio klassische Musik spielte und ein Glas Gin Tonic auf dem Nachttisch stand, ging es ihr schon besser. Sie hatte sich ihren Lieblingspyjama aus pinkfarbener Seide angezogen und blätterte durch ein Fotoalbum. Das half immer, wenn das Leben an ihr rüttelte. Und das hatte es an diesem Tag. In solchen Situationen war es tröstlich, sich an Menschen zu erinnern, die sie gekannt, an Orte, an denen sie gelebt hatte, und vor allem, sich die Bilder ihrer Familie anzusehen. Ein Album von vorne bis hinten oder hinten bis vorne zu betrachten, vermittelte ihr ein Gefühl von Sicherheit, Liebe, und, ja, Erfüllung. Und genau das brauchte sie.
    Sie hatte überreagiert. Sie hatte Margaret schon angerufen und sich entschuldigt. Margaret war ihr ins Wort gefallen und hatte sich ihrerseits entschuldigt. »Das war sehr unbedacht von uns, Lola. Es tut uns leid. Uns hätte bewusst sein müssen, dass Ellen dich an Anna erinnert.«
    »Ihr hättet gar nichts. Das war wahnsinnig komisch. Was man mit dem Computer alles machen kann. Ich war nur ein wenig müde.«
    Was den Tatsachen entsprach. Sie war ein wenig müde. Ein wenig traurig. Ein wenig melancholisch. Es war in mancher Hinsicht auch ein guter Tag gewesen. Sie musste versuchen, positiv zu denken. Sie hatte sich so über die vielen Spenden gefreut. War so stolz auf Jim, dass er ihnen im Motel Platz für die Lagerung angeboten hatte. Aber es war auch ein Tag voller trauriger Gefühle gewesen, so wie jeder Tag in ihrem Leben, wenn sie ehrlich war. Schöne Gedanken überlagerten traurige, traurige wieder schöne, Schicht um Schicht um Schicht …
    Waren menschliche Wesen im Innern wie Bäume? Und wenn ja, wie sähe es in Lola aus? Sähe man die Ringe ihrer vierundachtzig Lebensjahre, Spuren all ihrer Gefühle und Empfindungen? Dünne, graue Ringe aus den weniger glücklichen Zeiten? Breite, farbige Ringe für Jahre voller Freude, Gelächter und Familienglück? Wie sähen die Ringe ihrer kurzen Ehe aus? Schmal, dunkel, unglücklich? Nein, nicht nur, denn Jim entstammte dieser Ehe. Bei jenen Jahren würde auch das Licht strahlen, das Jim in ihr Leben gebracht hatte. So wie Anna, Bett und Carrie. Sie alle wären deutlich sichtbar in Gestalt breiter, heller Ringe, bei all der Freude und dem Glück, das sie Lola bereitet hatten. Ellens Ankunft. Noch mehr Licht und Farbe. Der alberne Streit wegen Matthew würde sich auch abzeichnen, in düsteren, unglücklichen Spuren und Farben, bis Lola alle wieder vereint hatte, mit ihrem Musical – auch das sähe man deutlich in heiteren Farben. Und dann kämen viele dunkle Ringe, die Annas plötzliche Krankheit und viel zu frühen Tod markieren würden. Schatten und düstere Farben aus einer gefühlten Ewigkeit …
    Doch nein, das stimmte

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