Die Frauen von der Beacon Street
hatten nicht einmal angerufen. Sibyl war über sich selbst entsetzt, dass sie sie zu Mrs Dee geführt hatte. Die drei, Sibyl, Benton und Edwin, hatten sich am Harvard Square in eine motorisierte Droschke gequetscht, und Benton hatte sich zu ihr gedreht und nur gesagt: » Na los. Geben Sie ihm die Adresse. «
Und das hatte sie getan.
Sibyl wusste, dass das Medium wütend auf sie sein würde, doch insgeheim, in einem kleinen Winkel ihres Herzens, freute sie sich auch darauf. Der Gedanke, Mrs Dees Talente dem skeptischen Psychologen zu zeigen, die Möglichkeit, dass Professor Friend ihre Arbeit legitimieren könnte, erfüllten sie mit Erregung, und ebenso war sie erpicht darauf, der Frau, die sie so lange angeleitet hatte, ihre neuesten Entdeckungen und Erkenntnisse zu enthüllen.
Sibyl hatte stets das Gefühl gehabt, für Mrs Dee eine Enttäuschung zu sein. Nicht, dass Mrs Dee jemals etwas Derartiges gesagt hatte, doch Sibyl befürchtete, sich nicht genug der Arbeit ihres Séance-Zirkels gewidmet zu haben, und dass diese Distanziertheit auf mangelnden Charakter zurückzuführen sein könnte. Es erfüllte sie mit Sorge, dass sie als Mensch versagt hatte, dass sie weder eine gute Tochter noch eine gute Schwester war, und keine Person, die es wert war, dass man sie aus dem Jenseits zu erreichen versuchte. Als wäre ihre Seele einfach nicht gut genug.
Sibyl war es so leid, andere Menschen zu enttäuschen.
Doch die vergangenen Wochen hatten Sibyls Gefühle für sich selbst verändert. Zuerst jener quälende Moment, in dem die Manifestation der Hand ihrer Mutter nach ihr gegriffen hatte, fast nahe genug, um sie berühren zu können. Dann die immer deutlicher werdenden Bilder in der Kristallkugel. Sie konnte spüren, wie sich die Konturen ihrer Welt veränderten. Lange Zeit hatte sich Sibyl wie eingesperrt in ihrem Ich gefühlt, abgeschottet in einem Raum, aus dem sie nicht herauskonnte. Jetzt jedoch fühlte sie sich zum ersten Mal, seit sie ein Mädchen gewesen war, gelöst, und alles schien ihr möglich.
Fast fühlte sie sich … frei.
» Und? « , fragte Benton und drehte sich zu Sibyl um. Er wollte nicht, dass sie sich hinter ihm versteckte.
Sibyl straffte ihre Schultern und sagte: » Sie könnten noch einmal klingeln. «
» Sind Sie denn sicher, dass sie zu Hause ist, Miss Allston? « , fragte Professor Friend und sah zu der Ehrfurcht gebietenden Fassade des Stadthauses empor.
» Wüsste nicht, wann sie es nicht ist « , meinte Sibyl.
Alle drei wandten erneut die bleichen Gesichter zur Tür, und Benton streckte die Hand nach dem Türklopfer aus. Er war aus Messing und hatte die Form einer stacheligen Ananas.
Bentons Hand zögerte noch einen Moment, und in genau diesem Augenblick ging die Tür mit einem Quietschen auf, und sie blickten in das wachsame Gesicht des Butlers. Auf ihm war deutlich Missbilligung zu lesen.
» Willkommen « , tönte er, und sein Gesicht hellte sich auf, als er Sibyl erkannte. » Wenn Sie mir bitte ins Wohnzimmer folgen wollen. «
Sibyl murmelte ein Dankeschön und trat ein.
Die beiden Professoren folgten ihr dicht auf den Fersen.
Sibyl beobachtete Benton aus dem Augenwinkel, während er den Raum mit dem säuerlichen Grinsen des Skeptikers beäugte. Professor Friend trug eine amüsierte Miene zur Schau, während er im Zimmer umherschritt, sich hier ein Buch näher anschaute und dort die glitzernden Mineralien auf dem Kaminsims bewunderte.
Benton fuhr mit der Fingerspitze gedankenverloren über den geschnitzten Rücken des gotischen Lehnstuhls, den das Medium benutzte. Dann schlenderte er vom Tisch aus zu dem Vitrinenschrank, der am anderen Ende des Zimmers stand. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, betrachtete er ihn eine Weile. Sibyl hatte den Eindruck, er werfe ihr einen heimlichen Blick zu, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder den Kuriositäten im Schrank widmete, doch sicher konnte sie sich nicht sein.
» Ah! « , verkündete Mrs Dee von der Türschwelle aus. Die Gestalt des Butlers ragte hinter ihr auf. » Meine Liebe! Was für eine angenehme Überraschung! Und Sie haben zwei Herren mitgebracht, sehe ich. «
Die Augen der kleinen Frau wanderten zunächst zu Benton und dann zu Professor Friend. In ihnen lag ein Schimmer von Interesse, der jedoch nur notdürftig ein tiefes Misstrauen verbarg. Das Medium trug den hermelinbesetzten Morgenmantel aus Gobelinstoff; und in der Tat sah Mrs Dee haargenau so aus wie bei Sibyls letztem Besuch, dass es fast unheimlich war.
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