Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe

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fragte er. Der Ton, den er anschlug, war unerwartet sanft, als sei er wirklich gewillt, ihr zuzuhören.
    » Ich sah die Nacht über dem Atlantik und den Bug des Schiffes, das ich jetzt mittlerweile schon seit Wochen genau erkennen kann. Aber dieses Mal war es anders. Diesmal habe ich wirklich Menschen erkennen können. «
    » Menschen? Was für Menschen? « , fragte er.
    » Sie befanden sich alle in einem sehr eleganten Speisesaal, dem Speisesaal der ersten Klasse, und es wurde getanzt. Plötzlich ging ein gewaltiger Ruck durch das Schiff, und die Leute gerieten in Panik. Alles rannte kreuz und quer, und dann neigte sich das Schiff zur Seite. O Ben. « Ihre Stimme stockte vor Entsetzen über das Erinnerte. » Es war schrecklich. « Sie schlug die Hände vors Gesicht, erbebte.
    » Haben Sie sie gesehen? « Benton zog die Worte in die Länge.
    Das Gesicht in den Händen vergraben, schwankte Sibyl mit den Bewegungen des Wagens mit. Professor Friend räusperte sich, wahrscheinlich um sie daran zu erinnern, dass er sich immer noch in Hörweite befand. Sibyl ließ die Hände halb sinken und spähte Benton zwischen den Fingern hindurch an.
    » Nicht sie « , flüsterte sie, und ihre Augen röteten sich.
    » Wen dann? « , flüsterte er. » Wen haben Sie gesehen? «
    Sibyl schluckte und senkte dann die Stimme, bis kaum mehr als ein Hauchen über ihre Lippen kam.
    » Ihn « , flüsterte sie und wies auf Professor Friend, der seinen Gedanken nachhing und aus dem Fenster schaute.

INTERLUDIUM
    Shanghai, Altstadt
    8. Juni 1868
    I n dem Sommer, bevor er an Bord der Morpheo in See gestochen war, hatte Lannie nach einer musikalischen Soiree bei Eunice Proctor, deren Haus nur zwei Blocks entfernt vom Haus der Allstons an der Chestnut Street in Salem lag, zum ersten Mal ein Zoetrop gesehen.
    » Wie funktioniert das? « , hatte er seine junge Gastgeberin gefragt. Von Eunice Proctor hatte er an jenem besonderen Nachmittag nur noch die neckischen, im Kreuzstich bestickten Rüschen ihrer Pluderhose in Erinnerung, die unter einem karierten Taftrock hervorblitzte, denn sein Blick hatte es nicht geschafft, weiter nördlich zu schweifen als bis zu der riesigen Schleife an ihrer Taille. Den größten Teil des musikalischen Nachmittags hatte er sich sowieso nur ihren Schuhen zugewandt, so schüchtern war er.
    » Es ist ganz einfach « , erklärte sie. » Sie nehmen das hier. « Sie hielt ihm einen langen Streifen festes Papier hin, auf dem eine Folge von Bildern eines galoppierenden Pferdes aufgedruckt war, wobei jedes Bild die Beine des Pferdes in einer etwas anderen Haltung zeigte. » Und dann legt man den Streifen in diese Trommel hier. «
    Sie beugte sich nach vorn und bereitete die Trommel auf besagte Weise vor. In genau diesem Moment hatte Lannies Blick es auch bis zu der Schleife geschafft.
    » Und dann schaut man durch die Schlitze hindurch « , sagte sie und bedeutete ihm, genau das zu tun. Er beugte sich vor, hielt die Nase nah an die Trommel. Aus dem Augenwinkel heraus nahm er wahr, dass Eunice sich ebenfalls vorbeugte. Vielleicht hätte er in diesem Moment auch einen Blick auf eine ihrer glänzenden Korkenzieherlocken erhaschen können, die in dieser geringen Distanz ausgesprochen anziehend waren, doch er wagte es nicht.
    » Und dann dreht man die Trommel « , fuhr sie fort. Die Trommel setzte sich in Bewegung, und Lannie hielt den Atem an. Durch die vorbeiziehenden Schlitze sah er, wie das Pferd zu laufen begann.
    » Na, so was! Es bewegt sich! «
    Das Mädchen kicherte, ganz begeistert davon, jemandem seine raffinierte Salonunterhaltung vorzuführen. Die Trommel drehte und drehte sich, das Pferd galoppierte ins Nirgendwo, wurde dann, als das Tempo der Trommel gedrosselt wurde, wieder langsamer, der Fluss der Bilder geriet ins Stocken und stoppte schließlich.
    » Möchten Sie noch eins sehen? « , fragte Eunice.
    » Und wie ich das will! «
    Streifen um Streifen wurde in die Trommel eingelegt, und jede neue Bilderfolge brachte Lannie zum Staunen. Ein Löwe, der über einen Ball sprang. Ein gehender Elefant mit einem Akrobaten auf dem Rücken. Ein blauer Papagei mit langer Schwanzfeder, der hochflatterte. Lannie staunte dermaßen über diese laufenden Bilder, die er noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, dass er darüber sogar die rüschigen Pluderhosen von Eunice Proctor vergaß.
    Jener Nachmittag vor langer Zeit in einem Salon in Salem, am anderen Ende der Welt, tauchte jetzt schemenhaft irgendwo im Hinterstübchen von