Die Frauen von der Beacon Street
Lannies Denken auf, während er in Shanghai in jenem Haus des Rauches und der Blumen lag.
So wie er damals durch die Schlitze des Zoetrops gelinst hatte, richtete sich jetzt seine ganze Aufmerksamkeit auf die sonderbaren Szenen, die sich im Spiel des Lichts auf den schwebenden Teeblättern am Grunde seines Glases bildeten. Fasziniert starrte er hinein und ließ sich von den Trugbildern in ihren Bann ziehen.
» Wie ein Zoetrop in meiner Hand « , flüsterte er.
Hauptsächlich sah er Wasser. Zunächst. Kein Wasser in der Teetasse, auch keinen Tee, sondern Wasser – Meerwasser. Brecher, Strudel, hohe Wellen. Als wäre er persönlich dort und starrte auf die See hinab, während er auf dem Kutter in Richtung Land unterwegs war. Außerhalb von Eunice Proctors wohlausgestattetem Salon hatte er noch nie künstlich hergestellte, bewegte Bilder gesehen, und er konnte kaum den Blick abwenden. Die Perspektive im Teeglas veränderte sich, als gleite er knapp über dem Wasser dahin wie eine schwebende Möwe, bis er zu einem Klipper – der Morpheo, wie er meinte – kam, der mit seinem Bug durch einen Kanal pflügte.
» Das Schiff « , wisperte Lannie.
Das Bild flimmerte und verwandelte sich in ein anderes Schiff, ähnlich wie die Morpheo, nur größer. Es war ein Segeldampfschiff, und der Blick schwebte über das Deck hinweg und ruhte schließlich auf einem Mann von etwa dreißig Jahren, der sich über einen Navigationstisch beugte. Erschaudernd stieß Lannie einen leisen Schrei aus, denn er sah, dass dieser Mann mit dem breiten Backenbart er selbst war. Er gab einem jüngeren Mann, der neben ihm stand, Anweisungen.
» Dampf? « , flüsterte er. Lannie wusste von Dampfschiffen, hatte jedoch noch nie auf einem gearbeitet. In dem Moment, in dem er das Wort aussprach, schmolz die Szene dahin und enthüllte ein weiteres Schiff, das Lannie stutzig machte. Unglaublich groß und massiv ähnelte es mehr einem europäischen Hotel in Schieflage als einem seetüchtigen Schiff. Der Koloss verfügte über keine Segel, schob sich majestätisch durch eine sternenübersäte Nacht und pflügte dabei gewaltige Wassermassen beiseite. Vier gestreifte Schornsteine stießen Wolken von Kohlerauch aus. In der Ferne trieb ein zerklüfteter Umriss im Wasser.
» Aber was … Wie macht es das? « , stammelte Lannie. War das ein anderes Kommando? War er etwa noch älter? Oder handelte es sich nur um Hirngespinste?
» Du murmelst « , gab der junge Mann über ihm von sich.
Lannie hörte ihn gar nicht.
Im Teeglas brodelte das Meer hoch und verschwand. An seine Stelle trat ein College-Campus in herbstlicher Pracht. Verschwommene Gesichter schwebten an ihm vorbei, junge Männer seines Alters, doch keiner von ihnen kam ihm bekannt vor. Und dann sah er sich selbst.
Seine Wangen waren voller, noch immer gebräunt, das Haar weniger wuschelig, und jetzt war endlich sein Schnurrbart da. Dieser erwachsene Lannie tat nichts Besonderes, sondern ging nur an der Massachusetts Hall vorbei, schlurfte durch bunte Kastanienblätter, die Hände in den Hosentaschen, in Gedanken verloren.
Lannie glaubte es läuten zu hören, vielleicht der Uhrturm der Universität, und dann schwand das Bild des Campus, die Gebäude schmolzen dahin wie Zuckerwatte in kochendem Wasser. Jetzt formte sich aus den wirbelnden Teeblättern der Umriss eines schönen Hauses, das sich über einem Grundstück am Fluss erhob und noch eingerüstet war. Backstein auf Backstein baute es sich auf, wie im Zeitraffer.
» O Mann! « , rief er aus.
Vor seinen Augen geleitete ein Mann, vermutlich wieder er selbst, nur älter, in einer dunklen Weste und mit mittlerweile leicht ergrauten Schläfen, eine sehr junge, sehr schöne Frau, die sich bei ihm eingehängt hatte, die Treppe hoch.
» Du hast Pfeifenträume, was? Die können manchmal verdammt schön sein. « Die Stimme des Studenten bohrte sich in sein Ohr wie ein Keil.
Lannie schob sie beiseite.
Er wollte mehr. Er wollte in das Haus hineinsehen. Er sah sein Alter Ego, wie es sich an den Hausschlüsseln zu schaffen machte, die schöne Frau warf den Kopf in den Nacken und lachte, gestikulierte aufgeregt mit den Händen, während sie ihm etwas erzählte. Sein älteres Ich lächelte und nickte, doch hinter diesem Lächeln war auch etwas, das ein wenig traurig aussah.
» Ich verstehe sowieso nicht, wofür du eine Uhr brauchst « , drängte sich die Stimme wieder in sein Bewusstsein.
Warum redete der bloß so viel? Lannie wollte nur mit seiner
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