Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
Vom Netzwerk:
überhaupt, war er sich sogar noch sicherer als vorher, was seine nüchterne Betrachtungsweise der Sache anging. Sibyl zog die Stirn in Falten und starrte auf die Kristallkugel.
    Nach wie vor schien ihr die Vision etwas ganz anderes zu sein als ein Traum. So viel realer, lebendiger. Sibyl ging nicht mehr ins Filmtheater, doch früher hatte sie mit ein paar Mädchen aus der Schule ein Lichtspielhaus besucht und erinnerte sich gut daran, wie es war, im Saal zu sitzen, das Gesicht zu der flackernden Leinwand hochgereckt, im Ohr die fröhlichen Klänge des Klaviers, mit dem die Abenteuer auf der Leinwand begleitet wurden. Der ganze Raum voller Menschen, junger Menschen wie sie selbst, die alle entsetzt aufsprangen, als im Film der Zug in den Bahnhof einfuhr, sie atemlos all die Verfolgungsjagden sahen, galoppierende Pferde, Schießereien, böse Schurken, die ihre Schnurrbärte zwirbelten, mit dicker Schminke um die Augen. Ja, die Bilder in der Kugel waren eher wie ein Film, wie etwas, dem sie zuschaute, als wie ein Traum.
    Sibyl sah nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass sie allein war. Als sie die tiefe Stille des schlummernden Hauses um sich herum spürte, fühlte sie sich sicher. Niemand würde es erfahren, wenn sie es wieder probierte. Nur noch ein letztes Mal.
    Sie griff nach dem Dekantierer, der auf dem Tisch neben ihr stand, und ließ daraus zehn Tropfen einer rötlich braunen Flüssigkeit in ein Glas fallen, das bereits den Rest ihres Sherrys vom Bridgespiel enthielt. Sie hielt das Glas hoch, beobachtete, wie sich die roten Tropfen wie Blut in dem alkoholischen Getränk auflösten, und stürzte dann die Mischung mit einer angewiderten Miene hinunter. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr Vater es schaffte, fast jeden Tag Laudanum einzunehmen. Es schmeckte schrecklich. Seine Schmerzen mussten wirklich groß sein, wenn er gewillt war, zu ihrer Linderung dieses bittere Zeug zu schlucken.
    Sie stellte das Glas beiseite, lehnte sich in ihrem Sessel zurück und hielt die Kristallkugel zwischen Finger und Daumen. Ganz allmählich breitete sich eine gewisse Leichtigkeit in ihr aus, ihr Kopf sank gegen das Polster, und sie spürte die angenehm prickelnde Wärme der Kaminglut an ihren bloßen Füßen. Die Last ihrer Sorgen verschwand ein wenig, und ihr Gesicht wurde weich. Ein genüssliches Seufzen entrang sich ihren Lippen.
    Nach ein paar stillen Minuten, in denen sie die Kristallkugel nicht aus den Augen ließ, begann sich deren Oberfläche zu verändern. Schwarze Rauchwolken erfüllten die Kugel, wogten und bauschten sich. Sibyl lächelte zufrieden. Jedes Mal löste sich das Bild schneller auf. Sie wurde immer besser.
    Der Rauch teilte sich wie ein Bühnenvorhang und gab den Blick auf den kabbeligen Ozean frei, nur dass diesmal die Wellen unter einer hellen Mittagssonne glitzerten. Sibyl runzelte die Stirn, verwirrt durch die veränderte Tageszeit. Wie zuvor wanderte ihr Blick über das Wasser hinweg, vollführte nach Herzenslust kleine Sprünge und Schlangenlinien. Sie glitt am Bug eines gigantischen Ozeandampfers entlang, dessen Rumpf im nachmittäglichen Sonnenlicht leuchtete, schwenkte dann hoch und über das Seitendeck zu den lachenden Gesichtern an Bord, den Frauen in ihren luftigen Tageskleidern, den Männern in makellosen Anzügen. In jedes Gesicht, an dem sie vorbeikam, schaute sie, und obwohl sie einige Menschen von ihren früheren Experimenten kannte, waren weder Helen noch Eulah unter ihnen.
    Währenddessen ließ sich Sibyl das Für und Wider durch den Kopf gehen. Es war alles ein Traum. Alles, was sie sah, konnte durch ihren besonderen Geisteszustand erklärt werden, der durch die Substanz, die sie eingenommen hatte, verändert worden war. Doch das, was sie sah, fühlte sich dennoch überhaupt nicht wie ein Traum an. Es fühlte sich so an, als würde sie ein tatsächliches Geschehen beobachten, etwas aus dem richtigen Leben, das sie doch unmöglich sehen konnte.
    Ihr Blick wanderte von Person zu Person, fast alles lachende Gesichter, nur manche in ein ernstes Gespräch vertieft. Sie bewegte sich vom Deck zum Speisesaal, an Kellnern vorbei, die hoch über ihren Köpfen volle Tabletts balancierten und an den Tischen vorbeimanövrierten. Das alles hatte sie bereits gesehen, nur aus irgendeinem Grund zu einer anderen Tageszeit, aber alles andere war genau gleich, alle Menschen waren am Platz. Immer noch keine Spur von Helen oder Eulah. Sibyl kniff die Augen zusammen, wünschte sich, mehr zu

Weitere Kostenlose Bücher