Die Frauen von der Beacon Street
das Ende erreicht hatten, war von oben ein weiteres Rumpeln zu hören, gefolgt von schallendem Gelächter, das den Flur des zweiten Stockes entlangperlte. Harlan kam aus einem der Schlafzimmer gestürzt. Sein Haar war zerzaust, und er war mit dem Schließen eines Manschettenknopfes beschäftigt.
» O Gott! « , rief er aus und kam lachend, aber offenbar etwas peinlich berührt auf Sibyl und Lan Allston zu. » Was, ist es denn schon Zeit zum Anziehen? «
Sibyl und ihr Vater tauschten einen argwöhnischen Blick, bevor sie ihre Aufmerksamkeit dem jüngsten Mitglied ihrer Familie zuwandten. Harlan grinste die beiden an, und Sibyl glaubte, einen schwachen Lippenstiftfleck in seinem Mundwinkel zu entdecken.
» Ganz sicher ist es Zeit « , sagte sein Vater, und seine Stimme nahm wieder den Ton strenger Distanziertheit an, in dem er üblicherweise mit seinem Sohn verkehrte. » Wir werden nicht auf dich warten, das weißt du. «
Mit diesen Worten bog ihr Vater würdevoll in den Flur ab, und Sibyl fing Harlans Blick auf. In einer raschen Bewegung strich sie sich mit dem Daumen über den Mundwinkel. Er riss die Augen auf, und sein Grinsen wurde breiter, während er ihren stummen Rat befolgte und sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr. Sibyl zog kurz in Erwägung, ihrem missratenen Bruder die Meinung zu sagen, rollte stattdessen jedoch nur mit den Augen und seufzte, bevor sie ihn zurück in sein Zimmer scheuchte. Er trat den Rückzug an, wenn auch mit einem Lachen auf den Lippen.
Als sie am Gästezimmer vorbeikam, glaubte sie, hinter der Tür ein Kichern zu hören.
Später an jenem Abend, nach einem Dinner, das hauptsächlich darin bestanden hatte, dass Benton und Lan den Fortgang des Krieges in Europa diskutierten, während Harlan und Dovie sich schmachtende Blicke über das Blumenarrangement hinweg zuwarfen und Sibyl voller Unmut ihr Essen auf dem Teller hin und her schob, gefolgt von Sherry und einer Partie Bridge im Wohnzimmer, bei der Harlan einen Wutausbruch hatte, weil er verlor, saß Sibyl vor ihrer Frisierkommode und lauschte der Stille, die sich über das Haus gelegt hatte. Von unten kam das ferne Schlagen der Uhr auf dem Kaminsims, das ihr die Mitternacht verkündete. Sibyl hob die Hände, zog die Nadeln aus ihrem Haar und warf sie mit einem leisen Klirren auf das Porzellantablett auf der Kommode.
Mit lose über die Schultern fallendem Haar, nur mit ihrem Morgenrock bekleidet, nahm Sibyl in dem Lehnstuhl vor dem Kamin Platz und streckte die Füße der letzten Glut entgegen. Nur das kalte Licht des zunehmenden Mondes, der über dem Flussbecken am Himmel hing, erhellte das Zimmer. Sie kramte in ihrer Tasche und zog die hölzerne Schachtel mit der Kugel aus den Tiefen ihres Morgenrocks hervor. Sibyl öffnete den Deckel und nahm das bläulich schimmernde Stück Glas heraus, hielt es vor sich ins Mondlicht. Im Dämmerlicht des Zimmers sah es trübe aus, als hätte jemand die Kugel in Milch getaucht.
Sibyl balancierte sie auf den Fingerspitzen und ließ sich dabei alles durch den Kopf gehen, was Benton zu ihr gesagt hatte. Bloß ein Wachtraum, hatte er gemeint. Ein Konstrukt ihres Unterbewussten. Sie seufzte. Alles, was er geäußert hatte, ergab deutlich einen Sinn. Und ihr Vater, der ganz offenbar ihr Gespräch bis ins kleinste Detail mit angehört hatte, war seiner Meinung. Er hatte ihr sogar das Versprechen abgenommen, mit der Sache aufzuhören.
Ohne es zu wollen, dachte sie wieder an den Kuss zurück, an das Gefühl von Bentons Lippen auf den ihren, und sie spürte, wie ihr schwindelig wurde. Sie lehnte den Kopf an die Lehne ihres Sessels und fragte sich, was er damit gemeint hatte. Vielleicht gar nichts. Vielleicht hatte ihn nur das Gefühl überkommen und überwältigt, sie beschützen zu wollen, und er hatte sich vergessen. Sie würde so tun, als wäre nichts geschehen. Sicher würde er sich dafür schämen, dass er ihr kürzlich von Neuem geschmiedetes Bündnis ausgenutzt hatte. Benton Derby war ein Gentleman. Sie würde über den Dingen stehen. Sie würde ihm das Gefühl vermitteln, dass sie ihm immer noch vertraute. Aber sie würde auf der Hut sein.
Andererseits, überlegte sie – während sie sich mehr dem Inhalt der Unterredung zuwandte als ihrem überraschenden Ende –, war denn Professor Friend nicht auch vertrauenswürdig? Und er war nicht einer Meinung mit Benton gewesen. Die Enthüllung von Mrs Dees Betrug hatte ihn nicht im Geringsten von seinen Überzeugungen abgebracht. Wenn
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