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Die Frauen von der Beacon Street

Die Frauen von der Beacon Street

Titel: Die Frauen von der Beacon Street Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Howe
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sehen. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, wo die beiden sein könnten, und allmählich wurde die Zeit knapp. Schon bald, das wusste sie, würde es passieren.
    Und dann geschah es. Ein Ruck ging durch das Schiff, alle im Speisesaal stolperten, und da war er wieder – der junge, gut aussehende Professor Friend in seinem Tweedanzug, den Mund zu einem Schrei geöffnet, oder möglicherweise gab er auch Anweisungen. Die Menschen fingen zu rennen an, und dann senkte sich die Oberfläche des Schiffes deutlich in Richtung Steuerbord. Das war der Moment, wo die Vision immer endete.
    Doch dieses Mal nicht. Sibyl sah, wie Professor Friend nach vorn lief, einer älteren Frau half, die gestolpert war, sah, wie er ihr den Arm um die Schultern legte und sie durch die Menge bugsierte. Einen Moment lang blieb Sibyls Perspektive stehen, wie ein ruhender Pol inmitten einer von Panik ergriffenen Gruppe von Menschen, die versuchten, auf allen vieren die höhere Seite des Speisesaals der ersten Klasse zu erreichen.
    Draußen, durch das Fenster hindurch, sah sie plötzlich eine gewaltige Explosion, gefolgt von einem höllischen Turm aus Rauch und Wasser und Unrat, der hoch in den Nachmittagshimmel schoss. Trotz der Geborgenheit in ihrem Lehnstuhl zitterte sie, und die Vibrationen, die das Schiff in ihrer Kristallkugel erfassten, gingen ihr durch Mark und Bein.
    Während sie entsetzt in die Kugel starrte, füllte sich das Glas erneut mit dickem Rauch, der sich zu einer brodelnden Masse verdichtete. Als die Schwärze fast zu einem festen Block erstarrt war, riss sie plötzlich auf, löste sich, und die Kristallkugel war wieder vollkommen klar.
    Die Kugel glitt aus Sibyls erschöpfter Hand, rollte von ihrem Schoß zu Boden, und sie schlug mit einem Schluchzen die Hände vors Gesicht.

EINUNDZWANZIG
    St. Swithin Club, Beacon Hill, Boston, Massachusetts
    7. Mai 1915
    D ieser Nachmittag würde nie enden. Harlan ließ sich noch tiefer in seinen Clubsessel sinken, faltete die Serviette auf dem Tisch vor ihm immer wieder neu. Zuerst bog er die eine Ecke herunter, dann die andere, bauschte den unteren Teil des Leinens auf, bis die Serviette die Form eines Schwans angenommen hatte.
    » Beeindruckend « , stellte Bickering hinter seinen aufgefächerten Spielkarten fest. » Sieht so aus, als hättest du noch ein paar verborgene Talente zu bieten, Allston. «
    » Bloß schade, dass sie nichts mit Kartenspielen zu tun haben « , bemerkte Townsend und steckte nachdenklich seine eigenen Karten neu zusammen.
    Harlan schnaubte ungehalten und machte sich wieder an der Serviette zu schaffen, bis aus dem gefalteten Schwan ein dicklicher Elefant geworden war.
    » Wo hast du das überhaupt gelernt? « , fragte Bickering, während Townsend mit einem falsch gezählten Trumpf einen Stich machte. » Verdammt « , fügte er in Bezug auf Townsends Zug hinzu.
    Bickerings Partner, ein aufgedunsener Typ mit blassem Backenbart und roten Aknenarben auf den Wangen, zeigte etwas mehr Reaktion und runzelte die Stirn.
    Harlan fragte sich, ob dieser Knabe, wer auch immer es war, so wenig darauf eingestellt war, hundert Dollar zu verlieren, wie er selbst. Man hatte ihn überhaupt nur widerwillig mitspielen lassen. Wenn er verlor, konnte er sich in Boston nicht mehr blicken lassen. Wenigstens würden dann seine Kreditlinien endgültig ausgeschöpft sein. Mehr brauchte man nicht, um in der Gesellschaft unten durch zu sein.
    » Ach, ich weiß nicht « , erwiderte Harlan, ohne auf Mr Backenbarts Verärgerung zu achten. » Man spielt einfach ein bisschen herum, dann ergibt es sich von selbst. « Noch ein paar Knicke und Kniffe und Falten, dann war aus dem Elefant ein Dackel geworden. Harlan ließ den Hund zu Bickering marschieren, drückte seine Serviettennase an Bickerings Handgelenk und machte schnüffelnde Geräusche. Der andere Mann warf ihm einen verärgerten Blick zu und zog seine Hand weg.
    » Hm « , sagte Bickering und nahm mit einer triumphierend gehobenen Augenbraue einen Stich von Townsend entgegen. Harlan verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte unter dem Tisch die Beine aus. Wenigstens waren sie fünfzig Punkte im Vorsprung. Noch zwei Stiche, und Townsend würde den Rubber gewinnen. Harlan wusste, dass Townsend der bessere Bridgepartner war. Noch so ein paar Spiele, und seine Schulden waren ausgeglichen. Fast. In seinen leicht zitternden Händen verwandelte sich die Serviette in eine Katze.
    Auf einmal wurde er aus seiner Versunkenheit gerissen.

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